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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Das Erbe der alten Welt.
(allerdings tadelnd gemeint): die Griechen pflegten ihre ganze Bildung
aus dem Homer zu schöpfen.1) In Ägypten, in Judäa, später in Rom
sehen wir den Gesetzgeber die Normen der Religion und des Kultus
feststellen, bei den Germanen dekretiert der König, was sein Volk
glauben soll;2) in Hellas ist es umgekehrt: der Dichter, welcher "das
Göttergeschlecht erschafft", der dichterische Philosoph (Anaxagoras,
Plato u. s. w.), ist es, der zu gedankentiefen Auffassungen des Gött-
lichen und des Sittlichen hinzuleiten versteht. Und diejenigen Männer,
welche dem Lande -- zu seiner Blütezeit -- Gesetze geben, sind in
der Schule jener Dichter und Philosophen erzogen worden. Wenn
Herodot jedes einzelne Buch seiner Historie mit dem Namen einer
Muse belegt, wenn Plato, den Sokrates seine schönsten Reden nur an
dem schönsten, von Nymphen bewohnten Orte halten und dialektische
Auseinandersetzungen mit einer Anrufung des Pan beschliessen lässt --
"O! verleihet mir, schön zu sein im Innern, und dass, was ich
Äusseres habe, dem Inneren befreundet sei!" --, wenn das Orakel
zu Thespiä Denjenigen "ein von Früchten strotzendes Ackerland"
verheisst, die den landwirtschaftlichen "Lehren des Dichters Hesiod
gehorchen"3) -- -- -- so deuten solche Züge, denen wir auf Schritt
und Tritt begegnen, auf eine das ganze Leben durchdringende künst-
lerische Atmosphäre: die Erinnerung daran erbte sich auf uns herab
und färbte manches Ideal unserer Zeit.

Geschichts-
lügen.

Bisher habe ich fast nur von einer positiven, förderlichen Erb-
schaft geredet. Es wäre jedoch durchaus einseitig und wahrheitswidrig,
wollte ich es dabei bewenden lassen. Unser Leben ist durchdrungen
von hellenischen Anregungen und Ergebnissen, und ich fürchte, wir
haben uns das Unheilvolle mehr angeeignet als das Heilbringende.
Sind wir durch griechische Geistesthaten in das Tageslicht des mensch-
lichen Lebens eingetreten, so haben wiederum gerade griechische Thaten
-- Dank vielleicht der künstlerischen Gestaltungskraft dieses merk-
würdigen Volkes -- viel dazu beigetragen, das Tageslicht wieder ab-

1) Fragment 4 (nach Flach: Geschichte der griechischen Lyrik, II, 419).
2) Der zur Zeit der Reformation eingeführte Grundsatz "cujus est regio,
illius est religio
" bringt eigentlich nur einen von Alters her bestehenden Rechts-
zustand zum Ausdruck.
3) Französische Ausgrabung des Jahres 1890 (siehe Peppmüller: Hesiodos
1896, S. 152). Man beachte auch solche Stellen wie Aristophanes: Die
Frösche,
Vers 1037 fg.

Das Erbe der alten Welt.
(allerdings tadelnd gemeint): die Griechen pflegten ihre ganze Bildung
aus dem Homer zu schöpfen.1) In Ägypten, in Judäa, später in Rom
sehen wir den Gesetzgeber die Normen der Religion und des Kultus
feststellen, bei den Germanen dekretiert der König, was sein Volk
glauben soll;2) in Hellas ist es umgekehrt: der Dichter, welcher »das
Göttergeschlecht erschafft«, der dichterische Philosoph (Anaxagoras,
Plato u. s. w.), ist es, der zu gedankentiefen Auffassungen des Gött-
lichen und des Sittlichen hinzuleiten versteht. Und diejenigen Männer,
welche dem Lande — zu seiner Blütezeit — Gesetze geben, sind in
der Schule jener Dichter und Philosophen erzogen worden. Wenn
Herodot jedes einzelne Buch seiner Historie mit dem Namen einer
Muse belegt, wenn Plato, den Sokrates seine schönsten Reden nur an
dem schönsten, von Nymphen bewohnten Orte halten und dialektische
Auseinandersetzungen mit einer Anrufung des Pan beschliessen lässt —
»O! verleihet mir, schön zu sein im Innern, und dass, was ich
Äusseres habe, dem Inneren befreundet sei!« —, wenn das Orakel
zu Thespiä Denjenigen »ein von Früchten strotzendes Ackerland«
verheisst, die den landwirtschaftlichen »Lehren des Dichters Hesiod
gehorchen«3) — — — so deuten solche Züge, denen wir auf Schritt
und Tritt begegnen, auf eine das ganze Leben durchdringende künst-
lerische Atmosphäre: die Erinnerung daran erbte sich auf uns herab
und färbte manches Ideal unserer Zeit.

Geschichts-
lügen.

Bisher habe ich fast nur von einer positiven, förderlichen Erb-
schaft geredet. Es wäre jedoch durchaus einseitig und wahrheitswidrig,
wollte ich es dabei bewenden lassen. Unser Leben ist durchdrungen
von hellenischen Anregungen und Ergebnissen, und ich fürchte, wir
haben uns das Unheilvolle mehr angeeignet als das Heilbringende.
Sind wir durch griechische Geistesthaten in das Tageslicht des mensch-
lichen Lebens eingetreten, so haben wiederum gerade griechische Thaten
— Dank vielleicht der künstlerischen Gestaltungskraft dieses merk-
würdigen Volkes — viel dazu beigetragen, das Tageslicht wieder ab-

1) Fragment 4 (nach Flach: Geschichte der griechischen Lyrik, II, 419).
2) Der zur Zeit der Reformation eingeführte Grundsatz »cujus est regio,
illius est religio
« bringt eigentlich nur einen von Alters her bestehenden Rechts-
zustand zum Ausdruck.
3) Französische Ausgrabung des Jahres 1890 (siehe Peppmüller: Hesiodos
1896, S. 152). Man beachte auch solche Stellen wie Aristophanes: Die
Frösche,
Vers 1037 fg.
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[90/0113] Das Erbe der alten Welt. (allerdings tadelnd gemeint): die Griechen pflegten ihre ganze Bildung aus dem Homer zu schöpfen. 1) In Ägypten, in Judäa, später in Rom sehen wir den Gesetzgeber die Normen der Religion und des Kultus feststellen, bei den Germanen dekretiert der König, was sein Volk glauben soll; 2) in Hellas ist es umgekehrt: der Dichter, welcher »das Göttergeschlecht erschafft«, der dichterische Philosoph (Anaxagoras, Plato u. s. w.), ist es, der zu gedankentiefen Auffassungen des Gött- lichen und des Sittlichen hinzuleiten versteht. Und diejenigen Männer, welche dem Lande — zu seiner Blütezeit — Gesetze geben, sind in der Schule jener Dichter und Philosophen erzogen worden. Wenn Herodot jedes einzelne Buch seiner Historie mit dem Namen einer Muse belegt, wenn Plato, den Sokrates seine schönsten Reden nur an dem schönsten, von Nymphen bewohnten Orte halten und dialektische Auseinandersetzungen mit einer Anrufung des Pan beschliessen lässt — »O! verleihet mir, schön zu sein im Innern, und dass, was ich Äusseres habe, dem Inneren befreundet sei!« —, wenn das Orakel zu Thespiä Denjenigen »ein von Früchten strotzendes Ackerland« verheisst, die den landwirtschaftlichen »Lehren des Dichters Hesiod gehorchen« 3) — — — so deuten solche Züge, denen wir auf Schritt und Tritt begegnen, auf eine das ganze Leben durchdringende künst- lerische Atmosphäre: die Erinnerung daran erbte sich auf uns herab und färbte manches Ideal unserer Zeit. Bisher habe ich fast nur von einer positiven, förderlichen Erb- schaft geredet. Es wäre jedoch durchaus einseitig und wahrheitswidrig, wollte ich es dabei bewenden lassen. Unser Leben ist durchdrungen von hellenischen Anregungen und Ergebnissen, und ich fürchte, wir haben uns das Unheilvolle mehr angeeignet als das Heilbringende. Sind wir durch griechische Geistesthaten in das Tageslicht des mensch- lichen Lebens eingetreten, so haben wiederum gerade griechische Thaten — Dank vielleicht der künstlerischen Gestaltungskraft dieses merk- würdigen Volkes — viel dazu beigetragen, das Tageslicht wieder ab- 1) Fragment 4 (nach Flach: Geschichte der griechischen Lyrik, II, 419). 2) Der zur Zeit der Reformation eingeführte Grundsatz »cujus est regio, illius est religio« bringt eigentlich nur einen von Alters her bestehenden Rechts- zustand zum Ausdruck. 3) Französische Ausgrabung des Jahres 1890 (siehe Peppmüller: Hesiodos 1896, S. 152). Man beachte auch solche Stellen wie Aristophanes: Die Frösche, Vers 1037 fg.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 90. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/113>, abgerufen am 24.11.2024.