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Carus, Julius Victor: Geschichte der Zoologie bis auf Johannes Müller und Charles Darwin. München, 1872.

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2. Kenntniß des thierischen Baues.
men nur ein Durchgangsstadium in der Aufstellung des thierischen
Baues darstellen kann, nicht an die Spitze seiner Betrachtungen stellte,
überhaupt nur beiläufig auf derartige allgemeine Bildungsverhältnisse
zu sprechen kommt. Dagegen führt er für die Gesetze der Correlation
der Theile wie für das der Correlation oder Compensation des Wachs-
thums mehrfache Belege auf. Die zweiflügligen Insecten haben den
Stachel vorn, die vierflügligen am hintern Körperende; kein scheiden-
flügliges hat einen Stachel. Alle lebendiggebärenden Vierfüßer haben
Haare, alle eierlegenden Vierfüßer haben Schuppen. Hauzähne und
Hörner zugleich besitzt kein Thier. Die meisten hörnertragenden sind
zweihufig. Die inductive Entstehung solcher allgemeinen Sätze wird
deutlich durch Bemerkungen wie z. B. die auf die letzte Angabe unmit-
telbar folgende: "Ein Einhufer mit zwei Hörnern ist uns niemals zu
Gesicht gekommen". Lassen sich diese Angaben, welche freilich bei Ari-
stoteles
zunächst Ausflüsse einer teleologischen Betrachtung waren, als
Ausdrücke allgemeiner morphologischer Verhältnisse hinnehmen, wie sie
ja (erst sehr spät) eine derartige Bedeutung erlangt haben, so bleiben die
bei ihm vorkommenden Beispiele für die Oekonomie des Wachsthums
(oder das Gesetz ausgleichender Harmonie, wie es J. B. Meyer
nennt) strenger mit seiner Ansicht von der Zweckmäßigkeit der Natur
verwebt. Immerhin aber sprechen dieselben für den umfassenden Stand-
punkt, welchen Aristoteles bei der Betrachtung der Thiere einnahm.

Wenn man nun aber auch ganz bei Seite lassen wollte, daß sich
in Aristoteles' Ansichten über thierischen Bau und thierisches Leben be-
reits Andeutungen finden, welche auf späteren Entwicklungsstufen der
Zoologie eine weitere Begründung und Bedeutung gefunden haben, so
würde doch der Werth seiner Arbeiten schon aus dem Grunde ein großer
bleiben, als er überhaupt eine planmäßige, wissenschaftliche Behand-
lung des Thierreichs erst schuf, welche nicht bloß als Ausgangspunkt
für spätere, mit Entdeckung neuer oder Vervollkommnung älterer Un-
tersuchungsmittel sicher begründete Untersuchungen dienen konnte und
wirklich diente, sondern welche vor Allem die Zoologie und vergleichende
Anatomie zum erstenmal in die Reihe der inductiven Wissenschaften
einordnete und damit auch die Entwickelung jener Anschauungen ermög-

2. Kenntniß des thieriſchen Baues.
men nur ein Durchgangsſtadium in der Aufſtellung des thieriſchen
Baues darſtellen kann, nicht an die Spitze ſeiner Betrachtungen ſtellte,
überhaupt nur beiläufig auf derartige allgemeine Bildungsverhältniſſe
zu ſprechen kommt. Dagegen führt er für die Geſetze der Correlation
der Theile wie für das der Correlation oder Compenſation des Wachs-
thums mehrfache Belege auf. Die zweiflügligen Inſecten haben den
Stachel vorn, die vierflügligen am hintern Körperende; kein ſcheiden-
flügliges hat einen Stachel. Alle lebendiggebärenden Vierfüßer haben
Haare, alle eierlegenden Vierfüßer haben Schuppen. Hauzähne und
Hörner zugleich beſitzt kein Thier. Die meiſten hörnertragenden ſind
zweihufig. Die inductive Entſtehung ſolcher allgemeinen Sätze wird
deutlich durch Bemerkungen wie z. B. die auf die letzte Angabe unmit-
telbar folgende: „Ein Einhufer mit zwei Hörnern iſt uns niemals zu
Geſicht gekommen“. Laſſen ſich dieſe Angaben, welche freilich bei Ari-
ſtoteles
zunächſt Ausflüſſe einer teleologiſchen Betrachtung waren, als
Ausdrücke allgemeiner morphologiſcher Verhältniſſe hinnehmen, wie ſie
ja (erſt ſehr ſpät) eine derartige Bedeutung erlangt haben, ſo bleiben die
bei ihm vorkommenden Beiſpiele für die Oekonomie des Wachsthums
(oder das Geſetz ausgleichender Harmonie, wie es J. B. Meyer
nennt) ſtrenger mit ſeiner Anſicht von der Zweckmäßigkeit der Natur
verwebt. Immerhin aber ſprechen dieſelben für den umfaſſenden Stand-
punkt, welchen Ariſtoteles bei der Betrachtung der Thiere einnahm.

Wenn man nun aber auch ganz bei Seite laſſen wollte, daß ſich
in Ariſtoteles' Anſichten über thieriſchen Bau und thieriſches Leben be-
reits Andeutungen finden, welche auf ſpäteren Entwicklungsſtufen der
Zoologie eine weitere Begründung und Bedeutung gefunden haben, ſo
würde doch der Werth ſeiner Arbeiten ſchon aus dem Grunde ein großer
bleiben, als er überhaupt eine planmäßige, wiſſenſchaftliche Behand-
lung des Thierreichs erſt ſchuf, welche nicht bloß als Ausgangspunkt
für ſpätere, mit Entdeckung neuer oder Vervollkommnung älterer Un-
terſuchungsmittel ſicher begründete Unterſuchungen dienen konnte und
wirklich diente, ſondern welche vor Allem die Zoologie und vergleichende
Anatomie zum erſtenmal in die Reihe der inductiven Wiſſenſchaften
einordnete und damit auch die Entwickelung jener Anſchauungen ermög-

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[71/0082] 2. Kenntniß des thieriſchen Baues. men nur ein Durchgangsſtadium in der Aufſtellung des thieriſchen Baues darſtellen kann, nicht an die Spitze ſeiner Betrachtungen ſtellte, überhaupt nur beiläufig auf derartige allgemeine Bildungsverhältniſſe zu ſprechen kommt. Dagegen führt er für die Geſetze der Correlation der Theile wie für das der Correlation oder Compenſation des Wachs- thums mehrfache Belege auf. Die zweiflügligen Inſecten haben den Stachel vorn, die vierflügligen am hintern Körperende; kein ſcheiden- flügliges hat einen Stachel. Alle lebendiggebärenden Vierfüßer haben Haare, alle eierlegenden Vierfüßer haben Schuppen. Hauzähne und Hörner zugleich beſitzt kein Thier. Die meiſten hörnertragenden ſind zweihufig. Die inductive Entſtehung ſolcher allgemeinen Sätze wird deutlich durch Bemerkungen wie z. B. die auf die letzte Angabe unmit- telbar folgende: „Ein Einhufer mit zwei Hörnern iſt uns niemals zu Geſicht gekommen“. Laſſen ſich dieſe Angaben, welche freilich bei Ari- ſtoteles zunächſt Ausflüſſe einer teleologiſchen Betrachtung waren, als Ausdrücke allgemeiner morphologiſcher Verhältniſſe hinnehmen, wie ſie ja (erſt ſehr ſpät) eine derartige Bedeutung erlangt haben, ſo bleiben die bei ihm vorkommenden Beiſpiele für die Oekonomie des Wachsthums (oder das Geſetz ausgleichender Harmonie, wie es J. B. Meyer nennt) ſtrenger mit ſeiner Anſicht von der Zweckmäßigkeit der Natur verwebt. Immerhin aber ſprechen dieſelben für den umfaſſenden Stand- punkt, welchen Ariſtoteles bei der Betrachtung der Thiere einnahm. Wenn man nun aber auch ganz bei Seite laſſen wollte, daß ſich in Ariſtoteles' Anſichten über thieriſchen Bau und thieriſches Leben be- reits Andeutungen finden, welche auf ſpäteren Entwicklungsſtufen der Zoologie eine weitere Begründung und Bedeutung gefunden haben, ſo würde doch der Werth ſeiner Arbeiten ſchon aus dem Grunde ein großer bleiben, als er überhaupt eine planmäßige, wiſſenſchaftliche Behand- lung des Thierreichs erſt ſchuf, welche nicht bloß als Ausgangspunkt für ſpätere, mit Entdeckung neuer oder Vervollkommnung älterer Un- terſuchungsmittel ſicher begründete Unterſuchungen dienen konnte und wirklich diente, ſondern welche vor Allem die Zoologie und vergleichende Anatomie zum erſtenmal in die Reihe der inductiven Wiſſenſchaften einordnete und damit auch die Entwickelung jener Anſchauungen ermög-

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Zitationshilfe: Carus, Julius Victor: Geschichte der Zoologie bis auf Johannes Müller und Charles Darwin. München, 1872, S. 71. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_zoologie_1872/82>, abgerufen am 24.11.2024.