Ganz anders erscheint Aristoteles. Eine Schilderung seiner allgemeinen philosophischen Bedeutung für die Geschichte der geistigen Entwickelung der Menschheit kann hier um so eher übergangen werden, als eine solche, an sich schon der Aufgabe vorliegenden Buches fern lie- gend, von Andern in zum Theil trefflicher Weise gegeben ist. Es war aber nothwendig, von seinen Vorgängern zu erwähnen, wie sie der Na- tur gegenübergetreten waren. Nicht unterlassen darf es daher werden, auch von dem "Maestro di color che sanno" anzugeben, welche Grund- anschauungen er vom Wesen der Natur hatte und welche Methode er anwandte, sie zu erklären. Aus den im Vorhergehenden angeführten einzelnen Urtheilen des Aristoteles geht schon hervor, daß er kein stren- ger Atomiker war, daß er also nicht mehr oder noch nicht versuchte, die Erscheinungen mit Nothwendigkeit auf ihre Bedingungen zurückzufüh- ren. Glaubt man daher, daß ein Fortschritt nur da zu suchen sei, wo sich Andeutungen des jetzt für richtig Erkannten auffinden lassen, dann wäre im Aristoteles kein Anknüpfungspunkt für moderne Forschung nachzuweisen. Nun sind aber nicht, wie oben in kurz bezeichnender Weise angeführt worden, die Grundbegriffe der heutigen Wissenschaft aus der Atomistik entlehnt, sondern, historisch betrachtet, es haben die Thatsachen in ihrer inductiven Verwendung zur Aufstellung allgemeiner Gesetze auf die Atomistik geführt. Es kommt folglich einmal auf die Art an, wie die Thatsachen erfaßt, und ob oder wie sie zu Verallgemei- nerungen benutzt wurden. Wenn man auch in Bezug auf Einzelheiten zugeben muß, daß Aristoteles trotz seines Kämpfens gegen die plato- nische Ideenlehre (welche die Erzeugerin des bis in die neueste Zeit hin- ein auch auf naturwissenschaftlichem Gebiete sein Unwesen treibenden, jede gesunde Naturphilosophie untergrabenden "Dinges an sich" ist) einen gewissen Idealismus beibehalten hat, so ist doch im Allge- meinen mit dankbarer Anerkennung hervorzuheben, daß er von der Ueberzeugung durchdrungen war, der Natur wohne eine vom vorstellen- den Subjecte völlig unabhängige Realität bei, die sinnliche Wahrneh- mung habe demnach eine objective Wahrheit. Er schaffte sich hierdurch den einzig richtigen Boden für eine mögliche Naturforschung. Ferner geht er zu allgemeinen Sätzen nur von einzelnen Thatsachen aus. Daß
2. Kenntniß des thieriſchen Baues.
Ganz anders erſcheint Ariſtoteles. Eine Schilderung ſeiner allgemeinen philoſophiſchen Bedeutung für die Geſchichte der geiſtigen Entwickelung der Menſchheit kann hier um ſo eher übergangen werden, als eine ſolche, an ſich ſchon der Aufgabe vorliegenden Buches fern lie- gend, von Andern in zum Theil trefflicher Weiſe gegeben iſt. Es war aber nothwendig, von ſeinen Vorgängern zu erwähnen, wie ſie der Na- tur gegenübergetreten waren. Nicht unterlaſſen darf es daher werden, auch von dem „Maestro di color che sanno“ anzugeben, welche Grund- anſchauungen er vom Weſen der Natur hatte und welche Methode er anwandte, ſie zu erklären. Aus den im Vorhergehenden angeführten einzelnen Urtheilen des Ariſtoteles geht ſchon hervor, daß er kein ſtren- ger Atomiker war, daß er alſo nicht mehr oder noch nicht verſuchte, die Erſcheinungen mit Nothwendigkeit auf ihre Bedingungen zurückzufüh- ren. Glaubt man daher, daß ein Fortſchritt nur da zu ſuchen ſei, wo ſich Andeutungen des jetzt für richtig Erkannten auffinden laſſen, dann wäre im Ariſtoteles kein Anknüpfungspunkt für moderne Forſchung nachzuweiſen. Nun ſind aber nicht, wie oben in kurz bezeichnender Weiſe angeführt worden, die Grundbegriffe der heutigen Wiſſenſchaft aus der Atomiſtik entlehnt, ſondern, hiſtoriſch betrachtet, es haben die Thatſachen in ihrer inductiven Verwendung zur Aufſtellung allgemeiner Geſetze auf die Atomiſtik geführt. Es kommt folglich einmal auf die Art an, wie die Thatſachen erfaßt, und ob oder wie ſie zu Verallgemei- nerungen benutzt wurden. Wenn man auch in Bezug auf Einzelheiten zugeben muß, daß Ariſtoteles trotz ſeines Kämpfens gegen die plato- niſche Ideenlehre (welche die Erzeugerin des bis in die neueſte Zeit hin- ein auch auf naturwiſſenſchaftlichem Gebiete ſein Unweſen treibenden, jede geſunde Naturphiloſophie untergrabenden „Dinges an ſich“ iſt) einen gewiſſen Idealismus beibehalten hat, ſo iſt doch im Allge- meinen mit dankbarer Anerkennung hervorzuheben, daß er von der Ueberzeugung durchdrungen war, der Natur wohne eine vom vorſtellen- den Subjecte völlig unabhängige Realität bei, die ſinnliche Wahrneh- mung habe demnach eine objective Wahrheit. Er ſchaffte ſich hierdurch den einzig richtigen Boden für eine mögliche Naturforſchung. Ferner geht er zu allgemeinen Sätzen nur von einzelnen Thatſachen aus. Daß
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2. Kenntniß des thieriſchen Baues.
Ganz anders erſcheint Ariſtoteles. Eine Schilderung ſeiner
allgemeinen philoſophiſchen Bedeutung für die Geſchichte der geiſtigen
Entwickelung der Menſchheit kann hier um ſo eher übergangen werden,
als eine ſolche, an ſich ſchon der Aufgabe vorliegenden Buches fern lie-
gend, von Andern in zum Theil trefflicher Weiſe gegeben iſt. Es war
aber nothwendig, von ſeinen Vorgängern zu erwähnen, wie ſie der Na-
tur gegenübergetreten waren. Nicht unterlaſſen darf es daher werden,
auch von dem „Maestro di color che sanno“ anzugeben, welche Grund-
anſchauungen er vom Weſen der Natur hatte und welche Methode er
anwandte, ſie zu erklären. Aus den im Vorhergehenden angeführten
einzelnen Urtheilen des Ariſtoteles geht ſchon hervor, daß er kein ſtren-
ger Atomiker war, daß er alſo nicht mehr oder noch nicht verſuchte, die
Erſcheinungen mit Nothwendigkeit auf ihre Bedingungen zurückzufüh-
ren. Glaubt man daher, daß ein Fortſchritt nur da zu ſuchen ſei, wo
ſich Andeutungen des jetzt für richtig Erkannten auffinden laſſen, dann
wäre im Ariſtoteles kein Anknüpfungspunkt für moderne Forſchung
nachzuweiſen. Nun ſind aber nicht, wie oben in kurz bezeichnender
Weiſe angeführt worden, die Grundbegriffe der heutigen Wiſſenſchaft
aus der Atomiſtik entlehnt, ſondern, hiſtoriſch betrachtet, es haben die
Thatſachen in ihrer inductiven Verwendung zur Aufſtellung allgemeiner
Geſetze auf die Atomiſtik geführt. Es kommt folglich einmal auf die
Art an, wie die Thatſachen erfaßt, und ob oder wie ſie zu Verallgemei-
nerungen benutzt wurden. Wenn man auch in Bezug auf Einzelheiten
zugeben muß, daß Ariſtoteles trotz ſeines Kämpfens gegen die plato-
niſche Ideenlehre (welche die Erzeugerin des bis in die neueſte Zeit hin-
ein auch auf naturwiſſenſchaftlichem Gebiete ſein Unweſen treibenden,
jede geſunde Naturphiloſophie untergrabenden „Dinges an ſich“ iſt)
einen gewiſſen Idealismus beibehalten hat, ſo iſt doch im Allge-
meinen mit dankbarer Anerkennung hervorzuheben, daß er von der
Ueberzeugung durchdrungen war, der Natur wohne eine vom vorſtellen-
den Subjecte völlig unabhängige Realität bei, die ſinnliche Wahrneh-
mung habe demnach eine objective Wahrheit. Er ſchaffte ſich hierdurch
den einzig richtigen Boden für eine mögliche Naturforſchung. Ferner
geht er zu allgemeinen Sätzen nur von einzelnen Thatſachen aus. Daß
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Carus, Julius Victor: Geschichte der Zoologie bis auf Johannes Müller und Charles Darwin. München, 1872, S. 63. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_zoologie_1872/74>, abgerufen am 24.11.2024.
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