Carus, Julius Victor: Geschichte der Zoologie bis auf Johannes Müller und Charles Darwin. München, 1872.Entwickelung der Thierwelt. solchen so ähnlich wie sich einander sind"; und was die Beziehung fossi-ler zu jetzt lebenden, jenen verwandten Formen betrifft, so erklärt er ausdrücklich, daß sie nicht etwa Varietäten einer Art, sondern ver- schiedene und unabhängige, ausgestorbene Arten sind. Wenn nun auch Linne einmal daran gedacht hatte65), daß ursprünglich nur Gattungen mit einzelnen Arten existirt haben könnten und daß die größere Zahl der Arten durch Verbastardirung der wenigen zuerst vorhandenen entstanden sein möchten, wenn auch Buffon zuletzt zu der Annahme gelangte, daß zwar "die constitutive Form jedes Thieres, wenigstens bei größeren Arten sich erhalten hat, daß aber vorzüglich niedere Formen alle die Einwirkungen der verschiedenen Ursachen einer Degeneration erfahren haben"66), so war es doch zuerst Lamarck, welcher direct aussprach, "daß die fast allgemein angenommene Voraussetzung, die lebenden Kör- per bilden durch unveränderliche Merkmale beständig verschiedene Arten, welche so alt wie die Natur selbst wären, alle Tage widerlegt werde." Er nimmt zwar Arten an, gibt ihnen aber nur eine begrenzte Dauer, nämlich nur für so lange, als die äußeren Lebensumstände sich nicht ändern67). Lamarck ist aber nicht bloß der erste, welcher mit dem alten Artbegriff bricht und die Unveränderlichkeit der Arten geradezu verneint, sondern er sucht auch sofort die Umwandlung der Formen und die all- mähliche Entwickelung des Thierreichs mit Hülfe wenn nicht bekannter doch zugänglicher Erscheinungen zu erklären. Unter den dabei wirksamen Momenten stellt er allerdings die Gewohnheiten und die Lebensweise der Thiere in erste Linie, schreibt aber auch den äußern Einflüssen und der Erblichkeit der Thiere die Wirkung zu, die allmählich eintretenden Veränderungen zu fixiren. So leitet er z. B. das Angewachsensein der Vogellunge und ihre Verlängerung in große Luftbehälter und die Knochen davon ab, daß die Vögel beständig ihre Lunge übermäßig stark aufbäesen, um den Körper specifisch leichter zu machen68). Die Degra- 65) Amoenit. acad. Tom. VI. p. 296 (Dissert. von Graberg, 1762). 66) Epoques de la nature. Suppl. Vol. V. 1778. p 27. (Ausgabe der Werke in 90 Bänden). 67) philos. zoolog. Tom. I. p. 54. 55. 68) ebenda T. I. p. 134. V. Carus, Gesch. d. Zool. 46
Entwickelung der Thierwelt. ſolchen ſo ähnlich wie ſich einander ſind“; und was die Beziehung foſſi-ler zu jetzt lebenden, jenen verwandten Formen betrifft, ſo erklärt er ausdrücklich, daß ſie nicht etwa Varietäten einer Art, ſondern ver- ſchiedene und unabhängige, ausgeſtorbene Arten ſind. Wenn nun auch Linné einmal daran gedacht hatte65), daß urſprünglich nur Gattungen mit einzelnen Arten exiſtirt haben könnten und daß die größere Zahl der Arten durch Verbaſtardirung der wenigen zuerſt vorhandenen entſtanden ſein möchten, wenn auch Buffon zuletzt zu der Annahme gelangte, daß zwar „die conſtitutive Form jedes Thieres, wenigſtens bei größeren Arten ſich erhalten hat, daß aber vorzüglich niedere Formen alle die Einwirkungen der verſchiedenen Urſachen einer Degeneration erfahren haben“66), ſo war es doch zuerſt Lamarck, welcher direct ausſprach, „daß die faſt allgemein angenommene Vorausſetzung, die lebenden Kör- per bilden durch unveränderliche Merkmale beſtändig verſchiedene Arten, welche ſo alt wie die Natur ſelbſt wären, alle Tage widerlegt werde.“ Er nimmt zwar Arten an, gibt ihnen aber nur eine begrenzte Dauer, nämlich nur für ſo lange, als die äußeren Lebensumſtände ſich nicht ändern67). Lamarck iſt aber nicht bloß der erſte, welcher mit dem alten Artbegriff bricht und die Unveränderlichkeit der Arten geradezu verneint, ſondern er ſucht auch ſofort die Umwandlung der Formen und die all- mähliche Entwickelung des Thierreichs mit Hülfe wenn nicht bekannter doch zugänglicher Erſcheinungen zu erklären. Unter den dabei wirkſamen Momenten ſtellt er allerdings die Gewohnheiten und die Lebensweiſe der Thiere in erſte Linie, ſchreibt aber auch den äußern Einflüſſen und der Erblichkeit der Thiere die Wirkung zu, die allmählich eintretenden Veränderungen zu fixiren. So leitet er z. B. das Angewachſenſein der Vogellunge und ihre Verlängerung in große Luftbehälter und die Knochen davon ab, daß die Vögel beſtändig ihre Lunge übermäßig ſtark aufbäeſen, um den Körper ſpecifiſch leichter zu machen68). Die Degra- 65) Amoenit. acad. Tom. VI. p. 296 (Diſſert. von Gråberg, 1762). 66) Epoques de la nature. Suppl. Vol. V. 1778. p 27. (Ausgabe der Werke in 90 Bänden). 67) philos. zoolog. Tom. I. p. 54. 55. 68) ebenda T. I. p. 134. V. Carus, Geſch. d. Zool. 46
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Entwickelung der Thierwelt.
ſolchen ſo ähnlich wie ſich einander ſind“; und was die Beziehung foſſi-
ler zu jetzt lebenden, jenen verwandten Formen betrifft, ſo erklärt
er ausdrücklich, daß ſie nicht etwa Varietäten einer Art, ſondern ver-
ſchiedene und unabhängige, ausgeſtorbene Arten ſind. Wenn nun auch
Linné einmal daran gedacht hatte 65), daß urſprünglich nur Gattungen
mit einzelnen Arten exiſtirt haben könnten und daß die größere Zahl der
Arten durch Verbaſtardirung der wenigen zuerſt vorhandenen entſtanden
ſein möchten, wenn auch Buffon zuletzt zu der Annahme gelangte,
daß zwar „die conſtitutive Form jedes Thieres, wenigſtens bei größeren
Arten ſich erhalten hat, daß aber vorzüglich niedere Formen alle die
Einwirkungen der verſchiedenen Urſachen einer Degeneration erfahren
haben“ 66), ſo war es doch zuerſt Lamarck, welcher direct ausſprach,
„daß die faſt allgemein angenommene Vorausſetzung, die lebenden Kör-
per bilden durch unveränderliche Merkmale beſtändig verſchiedene Arten,
welche ſo alt wie die Natur ſelbſt wären, alle Tage widerlegt werde.“
Er nimmt zwar Arten an, gibt ihnen aber nur eine begrenzte Dauer,
nämlich nur für ſo lange, als die äußeren Lebensumſtände ſich nicht
ändern 67). Lamarck iſt aber nicht bloß der erſte, welcher mit dem alten
Artbegriff bricht und die Unveränderlichkeit der Arten geradezu verneint,
ſondern er ſucht auch ſofort die Umwandlung der Formen und die all-
mähliche Entwickelung des Thierreichs mit Hülfe wenn nicht bekannter
doch zugänglicher Erſcheinungen zu erklären. Unter den dabei wirkſamen
Momenten ſtellt er allerdings die Gewohnheiten und die Lebensweiſe
der Thiere in erſte Linie, ſchreibt aber auch den äußern Einflüſſen und
der Erblichkeit der Thiere die Wirkung zu, die allmählich eintretenden
Veränderungen zu fixiren. So leitet er z. B. das Angewachſenſein der
Vogellunge und ihre Verlängerung in große Luftbehälter und die
Knochen davon ab, daß die Vögel beſtändig ihre Lunge übermäßig ſtark
aufbäeſen, um den Körper ſpecifiſch leichter zu machen 68). Die Degra-
65) Amoenit. acad. Tom. VI. p. 296 (Diſſert. von Gråberg, 1762).
66) Epoques de la nature. Suppl. Vol. V. 1778. p 27. (Ausgabe der
Werke in 90 Bänden).
67) philos. zoolog. Tom. I. p. 54. 55.
68) ebenda T. I. p. 134.
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