Carus, Julius Victor: Geschichte der Zoologie bis auf Johannes Müller und Charles Darwin. München, 1872.Periode der Morphologie. wendigkeit, wenn auch diese Nothwendigkeit nicht auf einen directenmechanischen Causalzusammenhang zurückgeführt werden kann. Die Beobachtung der einander begleitenden Veränderungen führte Cuvier nun auf die Erscheinung, daß zwar alle Organe in Abhängigkeit von einander stehn, in Ansehung ihrer Entwickelung, ihres Auftretens, ihrer Form, daß aber einmal innerhalb gewisser Thiergruppen nicht alle Or- gane einen gleichen Betrag von Veränderungen zeigen, und dann daß bestimmte Systeme mit andern verglichen weniger in ihrer Form u. s. f. schwanken. Da es sich nun zeige, daß die bedeutungsvolleren Organe in ihrer Form die constanteren seien, so glaubte Cuvier in der "Unter- ordnung der Merkmale" (der Subordination der Charaktere) den Schlüssel nicht bloß zum Verständniß gewisser zootomischer Thatsachen, sondern auch zur zweckmäßigsten Verwendung der vergleichend-anato- mischen Resultate auf die Systematik zu besitzen. Doch entgieng ihm nicht, daß der Begriff der Unterordnung ein künstlicher ist und daß die "Bedeutung", d. h. die Wichtigkeit eines Organs erst durch die Erfah- rung festgestellt werden müsse, nämlich durch Nachweis seiner Constanz. Nichtsdestoweniger folgt er aber diesem Grundsatze, geräth indessen natürlich, da er damit auf eine künstliche Anordnung der Formen nach einem Merkmal hinauskommt, ins Schwanken. So bezeichnet er 1795 die Generationsorgane, deren Thätigkeit das Thier seine Existenz ver- dankt und die Circulationsorgane, auf denen die individuelle Erhaltung des Thiers beruht, als die wichtigsten, während er 1812 dem Beispiele Virey's folgend, das Nervensystem für das System erklärt, zu dessen Unterhaltung eigentlich die andern Systeme allein vorhanden wären. Die weiteren Resultate dieser Reihe von Betrachtungen werden später zu erörtern sein. Es handelt sich hier zunächst um Cuvier's vergleichend- anatomischen Standpunkt. Im Gegensatze zu seinem Zeitgenossen Geoffroy, wie zu den zahlreichen Nachfolgern und Anhängern Bonnet's, welche den ganzen Formenreichthum des Thierreichs als in einer un- unterbrochenen Kette sich darstellend annahmen, geht Cuvier ohne eine vorher gebildete Theorie an das Werk. Wie die Idee der Einheit des Typus oder der Structur, so verwirft er von vornherein alle vorzeiti- gen Verallgemeinerungen als metaphysische Träumereien. Er sammelt Periode der Morphologie. wendigkeit, wenn auch dieſe Nothwendigkeit nicht auf einen directenmechaniſchen Cauſalzuſammenhang zurückgeführt werden kann. Die Beobachtung der einander begleitenden Veränderungen führte Cuvier nun auf die Erſcheinung, daß zwar alle Organe in Abhängigkeit von einander ſtehn, in Anſehung ihrer Entwickelung, ihres Auftretens, ihrer Form, daß aber einmal innerhalb gewiſſer Thiergruppen nicht alle Or- gane einen gleichen Betrag von Veränderungen zeigen, und dann daß beſtimmte Syſteme mit andern verglichen weniger in ihrer Form u. ſ. f. ſchwanken. Da es ſich nun zeige, daß die bedeutungsvolleren Organe in ihrer Form die conſtanteren ſeien, ſo glaubte Cuvier in der „Unter- ordnung der Merkmale“ (der Subordination der Charaktere) den Schlüſſel nicht bloß zum Verſtändniß gewiſſer zootomiſcher Thatſachen, ſondern auch zur zweckmäßigſten Verwendung der vergleichend-anato- miſchen Reſultate auf die Syſtematik zu beſitzen. Doch entgieng ihm nicht, daß der Begriff der Unterordnung ein künſtlicher iſt und daß die „Bedeutung“, d. h. die Wichtigkeit eines Organs erſt durch die Erfah- rung feſtgeſtellt werden müſſe, nämlich durch Nachweis ſeiner Conſtanz. Nichtsdeſtoweniger folgt er aber dieſem Grundſatze, geräth indeſſen natürlich, da er damit auf eine künſtliche Anordnung der Formen nach einem Merkmal hinauskommt, ins Schwanken. So bezeichnet er 1795 die Generationsorgane, deren Thätigkeit das Thier ſeine Exiſtenz ver- dankt und die Circulationsorgane, auf denen die individuelle Erhaltung des Thiers beruht, als die wichtigſten, während er 1812 dem Beiſpiele Virey's folgend, das Nervenſyſtem für das Syſtem erklärt, zu deſſen Unterhaltung eigentlich die andern Syſteme allein vorhanden wären. Die weiteren Reſultate dieſer Reihe von Betrachtungen werden ſpäter zu erörtern ſein. Es handelt ſich hier zunächſt um Cuvier's vergleichend- anatomiſchen Standpunkt. Im Gegenſatze zu ſeinem Zeitgenoſſen Geoffroy, wie zu den zahlreichen Nachfolgern und Anhängern Bonnet's, welche den ganzen Formenreichthum des Thierreichs als in einer un- unterbrochenen Kette ſich darſtellend annahmen, geht Cuvier ohne eine vorher gebildete Theorie an das Werk. Wie die Idee der Einheit des Typus oder der Structur, ſo verwirft er von vornherein alle vorzeiti- gen Verallgemeinerungen als metaphyſiſche Träumereien. Er ſammelt <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0613" n="602"/><fw place="top" type="header">Periode der Morphologie.</fw><lb/> wendigkeit, wenn auch dieſe Nothwendigkeit nicht auf einen directen<lb/> mechaniſchen Cauſalzuſammenhang zurückgeführt werden kann. 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Periode der Morphologie.
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mechaniſchen Cauſalzuſammenhang zurückgeführt werden kann. Die
Beobachtung der einander begleitenden Veränderungen führte Cuvier
nun auf die Erſcheinung, daß zwar alle Organe in Abhängigkeit von
einander ſtehn, in Anſehung ihrer Entwickelung, ihres Auftretens, ihrer
Form, daß aber einmal innerhalb gewiſſer Thiergruppen nicht alle Or-
gane einen gleichen Betrag von Veränderungen zeigen, und dann daß
beſtimmte Syſteme mit andern verglichen weniger in ihrer Form u. ſ. f.
ſchwanken. Da es ſich nun zeige, daß die bedeutungsvolleren Organe
in ihrer Form die conſtanteren ſeien, ſo glaubte Cuvier in der „Unter-
ordnung der Merkmale“ (der Subordination der Charaktere) den
Schlüſſel nicht bloß zum Verſtändniß gewiſſer zootomiſcher Thatſachen,
ſondern auch zur zweckmäßigſten Verwendung der vergleichend-anato-
miſchen Reſultate auf die Syſtematik zu beſitzen. Doch entgieng ihm
nicht, daß der Begriff der Unterordnung ein künſtlicher iſt und daß die
„Bedeutung“, d. h. die Wichtigkeit eines Organs erſt durch die Erfah-
rung feſtgeſtellt werden müſſe, nämlich durch Nachweis ſeiner Conſtanz.
Nichtsdeſtoweniger folgt er aber dieſem Grundſatze, geräth indeſſen
natürlich, da er damit auf eine künſtliche Anordnung der Formen nach
einem Merkmal hinauskommt, ins Schwanken. So bezeichnet er 1795
die Generationsorgane, deren Thätigkeit das Thier ſeine Exiſtenz ver-
dankt und die Circulationsorgane, auf denen die individuelle Erhaltung
des Thiers beruht, als die wichtigſten, während er 1812 dem Beiſpiele
Virey's folgend, das Nervenſyſtem für das Syſtem erklärt, zu deſſen
Unterhaltung eigentlich die andern Syſteme allein vorhanden wären.
Die weiteren Reſultate dieſer Reihe von Betrachtungen werden ſpäter
zu erörtern ſein. Es handelt ſich hier zunächſt um Cuvier's vergleichend-
anatomiſchen Standpunkt. Im Gegenſatze zu ſeinem Zeitgenoſſen
Geoffroy, wie zu den zahlreichen Nachfolgern und Anhängern Bonnet's,
welche den ganzen Formenreichthum des Thierreichs als in einer un-
unterbrochenen Kette ſich darſtellend annahmen, geht Cuvier ohne eine
vorher gebildete Theorie an das Werk. Wie die Idee der Einheit des
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gen Verallgemeinerungen als metaphyſiſche Träumereien. Er ſammelt
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