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Carus, Julius Victor: Geschichte der Zoologie bis auf Johannes Müller und Charles Darwin. München, 1872.

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Periode der Morphologie.
führen. Bei seinen Untersuchungen über das Nabelbläschen kam er auf
den Gedanken, die hintere Hälfte des Thierkörpers (es paßt nur auf
Säugethiere) als Geschlechtsthier der vordern als Hirnthier entgegen-
zusetzen, und bemerkt (1805), daß das Becken das Bestreben habe, das
ganze Knochensystem des Hirnthiers nachzubilden. In der Naturphilo-
sophie wird dann diese Vergleichung durchgeführt. "Das Thier besteht
aus zwei mit den Bäuchen aneinandergeschobenen Thieren" u. s. w.;
Schambein ist Unterkiefer und Kinn, Sitzbein Oberkiefer, aber ohne
Zwischenkiefer. Hinter dem After als Geschlechtsmund setzt sich das
Kreuzbein in die Schwanzwirbel fort; dies sind die Halswirbel." Nun
trat der Gedanke nahe, daß wie dieser hintere Hals mit Wirbeln ende,
so wohl auch die vordere Wiederholung dieses Stücks Wirbelsäule, der
Schädel, ursprünglich aus Wirbeln zusammengesetzt sein werde. Gerade
die Beschränkung seiner Vergleichung auf Säugethiere und sein Ausgehn
von der relativen Lage der Urogenitalorgane bei diesen beweisen, daß
die Vergleichung eine in seine Grundsätze hineingezwungene war (wie
er auf demselben Wege dazu kam, den Enddarm mit den beiden Blind-
därmen bei Vögeln für die Blase nehmen zu müssen), daß er von einer
gleichförmigen genetischen Grundlage des Schädels bei allen Wirbel-
thieren zunächst keine Ahnung hatte. Es war rein zufällig, daß er auf
etwas geführt wurde, was von anderer Methode angegriffen fruchtbar
werden konnte. Man war auch bereits von anderer Seite her darauf
gekommen; schon Peter Frank hatte den Gedanken der Wirbelzu-
sammensetzung des Schädels ausgesprochen, und die Vergleichung der
einzelnen Theile der Individuen hatte Vicq d'Azyr eingeführt.

Nun wird gar häufig zu Oken's Vertheidigung hervorgehoben,
seine sinnlosen Formeln seien nur "ebenbildlich" zu nehmen, wie er selbst
(in der Vorrede zur Naturphilosophie) gesagt habe. Eine bildliche Rede-
weise muß doch aber in irgend welcher vernünftigen Art eine Beziehung
des zu Vergleichenden zu dem Verglichenen oder eine Aehnlichkeit des
Verhältnisses beider zu einem dritten erkennen lassen. Davon ist aber
nur äußerst selten eine Spur zu finden. Oken hat aber selbst ausdrück-
lich den Beweis gegeben, daß er seine Naturphilosophie nicht dazu be-
nutzen wolle, die Erkenntniß zu erweitern, sondern daß er meinte, die

Periode der Morphologie.
führen. Bei ſeinen Unterſuchungen über das Nabelbläschen kam er auf
den Gedanken, die hintere Hälfte des Thierkörpers (es paßt nur auf
Säugethiere) als Geſchlechtsthier der vordern als Hirnthier entgegen-
zuſetzen, und bemerkt (1805), daß das Becken das Beſtreben habe, das
ganze Knochenſyſtem des Hirnthiers nachzubilden. In der Naturphilo-
ſophie wird dann dieſe Vergleichung durchgeführt. „Das Thier beſteht
aus zwei mit den Bäuchen aneinandergeſchobenen Thieren“ u. ſ. w.;
Schambein iſt Unterkiefer und Kinn, Sitzbein Oberkiefer, aber ohne
Zwiſchenkiefer. Hinter dem After als Geſchlechtsmund ſetzt ſich das
Kreuzbein in die Schwanzwirbel fort; dies ſind die Halswirbel.“ Nun
trat der Gedanke nahe, daß wie dieſer hintere Hals mit Wirbeln ende,
ſo wohl auch die vordere Wiederholung dieſes Stücks Wirbelſäule, der
Schädel, urſprünglich aus Wirbeln zuſammengeſetzt ſein werde. Gerade
die Beſchränkung ſeiner Vergleichung auf Säugethiere und ſein Ausgehn
von der relativen Lage der Urogenitalorgane bei dieſen beweiſen, daß
die Vergleichung eine in ſeine Grundſätze hineingezwungene war (wie
er auf demſelben Wege dazu kam, den Enddarm mit den beiden Blind-
därmen bei Vögeln für die Blaſe nehmen zu müſſen), daß er von einer
gleichförmigen genetiſchen Grundlage des Schädels bei allen Wirbel-
thieren zunächſt keine Ahnung hatte. Es war rein zufällig, daß er auf
etwas geführt wurde, was von anderer Methode angegriffen fruchtbar
werden konnte. Man war auch bereits von anderer Seite her darauf
gekommen; ſchon Peter Frank hatte den Gedanken der Wirbelzu-
ſammenſetzung des Schädels ausgeſprochen, und die Vergleichung der
einzelnen Theile der Individuen hatte Vicq d'Azyr eingeführt.

Nun wird gar häufig zu Oken's Vertheidigung hervorgehoben,
ſeine ſinnloſen Formeln ſeien nur „ebenbildlich“ zu nehmen, wie er ſelbſt
(in der Vorrede zur Naturphiloſophie) geſagt habe. Eine bildliche Rede-
weiſe muß doch aber in irgend welcher vernünftigen Art eine Beziehung
des zu Vergleichenden zu dem Verglichenen oder eine Aehnlichkeit des
Verhältniſſes beider zu einem dritten erkennen laſſen. Davon iſt aber
nur äußerſt ſelten eine Spur zu finden. Oken hat aber ſelbſt ausdrück-
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[584/0595] Periode der Morphologie. führen. Bei ſeinen Unterſuchungen über das Nabelbläschen kam er auf den Gedanken, die hintere Hälfte des Thierkörpers (es paßt nur auf Säugethiere) als Geſchlechtsthier der vordern als Hirnthier entgegen- zuſetzen, und bemerkt (1805), daß das Becken das Beſtreben habe, das ganze Knochenſyſtem des Hirnthiers nachzubilden. In der Naturphilo- ſophie wird dann dieſe Vergleichung durchgeführt. „Das Thier beſteht aus zwei mit den Bäuchen aneinandergeſchobenen Thieren“ u. ſ. w.; Schambein iſt Unterkiefer und Kinn, Sitzbein Oberkiefer, aber ohne Zwiſchenkiefer. Hinter dem After als Geſchlechtsmund ſetzt ſich das Kreuzbein in die Schwanzwirbel fort; dies ſind die Halswirbel.“ Nun trat der Gedanke nahe, daß wie dieſer hintere Hals mit Wirbeln ende, ſo wohl auch die vordere Wiederholung dieſes Stücks Wirbelſäule, der Schädel, urſprünglich aus Wirbeln zuſammengeſetzt ſein werde. Gerade die Beſchränkung ſeiner Vergleichung auf Säugethiere und ſein Ausgehn von der relativen Lage der Urogenitalorgane bei dieſen beweiſen, daß die Vergleichung eine in ſeine Grundſätze hineingezwungene war (wie er auf demſelben Wege dazu kam, den Enddarm mit den beiden Blind- därmen bei Vögeln für die Blaſe nehmen zu müſſen), daß er von einer gleichförmigen genetiſchen Grundlage des Schädels bei allen Wirbel- thieren zunächſt keine Ahnung hatte. Es war rein zufällig, daß er auf etwas geführt wurde, was von anderer Methode angegriffen fruchtbar werden konnte. Man war auch bereits von anderer Seite her darauf gekommen; ſchon Peter Frank hatte den Gedanken der Wirbelzu- ſammenſetzung des Schädels ausgeſprochen, und die Vergleichung der einzelnen Theile der Individuen hatte Vicq d'Azyr eingeführt. Nun wird gar häufig zu Oken's Vertheidigung hervorgehoben, ſeine ſinnloſen Formeln ſeien nur „ebenbildlich“ zu nehmen, wie er ſelbſt (in der Vorrede zur Naturphiloſophie) geſagt habe. Eine bildliche Rede- weiſe muß doch aber in irgend welcher vernünftigen Art eine Beziehung des zu Vergleichenden zu dem Verglichenen oder eine Aehnlichkeit des Verhältniſſes beider zu einem dritten erkennen laſſen. Davon iſt aber nur äußerſt ſelten eine Spur zu finden. Oken hat aber ſelbſt ausdrück- lich den Beweis gegeben, daß er ſeine Naturphiloſophie nicht dazu be- nutzen wolle, die Erkenntniß zu erweitern, ſondern daß er meinte, die

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Zitationshilfe: Carus, Julius Victor: Geschichte der Zoologie bis auf Johannes Müller und Charles Darwin. München, 1872, S. 584. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_zoologie_1872/595>, abgerufen am 22.11.2024.