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Carus, Julius Victor: Geschichte der Zoologie bis auf Johannes Müller und Charles Darwin. München, 1872.

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Periode der Morphologie.
hangs der metaphysischen Grundformen der Erkenntniß mit jenen zu
sehr, als daß er nicht die Gegner des Empirismus hätte zur entgegen-
gesetzten Auffassung verleiten sollen. Andrerseits erregte die Verschie-
denartigkeit der Objecte und der von ihnen gemachten Vorstellung
Aufmerksamkeit und forderte zur Lösung auf; man glaubte noch einen
Beweis nöthig zu haben, daß beide und wie sie übereinstimmen können.
Hierzu benutzte Leibnitz einmal die Annahme, daß die allgemeine Er-
kenntniß wenigstens der Anlage nach angeboren sei, und dann erfand er
die Hypothese der prästabilirten Harmonie zwischen der Natur und dem
Geiste. Durch Kant hätte wohl die Frage gelöst sein können, als er
auf die Verschiedenheit des Anfangs und des Ursprungs der Erkennt-
niß hinwies, womit auch der zweideutige Ausdruck des Apriorischen
seine bestimmte Erklärung erhielt. Doch gab er durch die Unterschei-
dung der metaphysischen Erkenntniß von einer rein philosophischen oder
transcendentalen, wobei er eine psychologische Abstraction mit einer
metaphysischen verwechselte, Veranlassung dazu, daß das anthropolo-
gische Princip mit dem logischen verwechselt wurde, Veranlassung "zu
den beiden entgegengesetzten Verirrungen in die öden Steppen der
Scholastik und das unheimliche Dunkel des neoplatonischen Mysticis-
mus", wie letzterer zuerst bei Fichte durchklingt. Beides erscheint bei
Schelling. Verleitet von jener Verwechselung Kant's und getäuscht
durch die Amphibolie der Reflexionsbegriffe geräth er in völlig leere
Abstractionen und baut sein ganzes System aus inhaltslosen logischen
Formeln auf, als deren letzte die totale Indifferenz der absoluten Iden-
tität erscheint. Hierin liegt nach Schelling die ununterscheidbare Ver-
bindung von Subject und Object und dies nennt er die Selbsterkennt-
niß Gottes. Natur und Geist werden daher auch identisch und über
Natur philosophiren heißt so viel als die Natur schaffen. Er hat sich
nun zwar einen obersten Grundsatz geschaffen; aber statt ihn an der
Erfahrung zu prüfen und den einzelnen Begriffen und Ableitungen
einen Inhalt zu geben, sucht er die wenigen Thatsachen, mit denen er
überhaupt und dann nur sehr oberflächlich verkehrt, in ein leeres Sy-
stem metaphysischer Speculationen zu zwängen. Daß er die Idee des
Absoluten und die Bedeutung derselben als Grenzbestimmung der

Periode der Morphologie.
hangs der metaphyſiſchen Grundformen der Erkenntniß mit jenen zu
ſehr, als daß er nicht die Gegner des Empirismus hätte zur entgegen-
geſetzten Auffaſſung verleiten ſollen. Andrerſeits erregte die Verſchie-
denartigkeit der Objecte und der von ihnen gemachten Vorſtellung
Aufmerkſamkeit und forderte zur Löſung auf; man glaubte noch einen
Beweis nöthig zu haben, daß beide und wie ſie übereinſtimmen können.
Hierzu benutzte Leibnitz einmal die Annahme, daß die allgemeine Er-
kenntniß wenigſtens der Anlage nach angeboren ſei, und dann erfand er
die Hypotheſe der präſtabilirten Harmonie zwiſchen der Natur und dem
Geiſte. Durch Kant hätte wohl die Frage gelöſt ſein können, als er
auf die Verſchiedenheit des Anfangs und des Urſprungs der Erkennt-
niß hinwies, womit auch der zweideutige Ausdruck des Aprioriſchen
ſeine beſtimmte Erklärung erhielt. Doch gab er durch die Unterſchei-
dung der metaphyſiſchen Erkenntniß von einer rein philoſophiſchen oder
transcendentalen, wobei er eine pſychologiſche Abſtraction mit einer
metaphyſiſchen verwechſelte, Veranlaſſung dazu, daß das anthropolo-
giſche Princip mit dem logiſchen verwechſelt wurde, Veranlaſſung „zu
den beiden entgegengeſetzten Verirrungen in die öden Steppen der
Scholaſtik und das unheimliche Dunkel des neoplatoniſchen Myſticis-
mus“, wie letzterer zuerſt bei Fichte durchklingt. Beides erſcheint bei
Schelling. Verleitet von jener Verwechſelung Kant's und getäuſcht
durch die Amphibolie der Reflexionsbegriffe geräth er in völlig leere
Abſtractionen und baut ſein ganzes Syſtem aus inhaltsloſen logiſchen
Formeln auf, als deren letzte die totale Indifferenz der abſoluten Iden-
tität erſcheint. Hierin liegt nach Schelling die ununterſcheidbare Ver-
bindung von Subject und Object und dies nennt er die Selbſterkennt-
niß Gottes. Natur und Geiſt werden daher auch identiſch und über
Natur philoſophiren heißt ſo viel als die Natur ſchaffen. Er hat ſich
nun zwar einen oberſten Grundſatz geſchaffen; aber ſtatt ihn an der
Erfahrung zu prüfen und den einzelnen Begriffen und Ableitungen
einen Inhalt zu geben, ſucht er die wenigen Thatſachen, mit denen er
überhaupt und dann nur ſehr oberflächlich verkehrt, in ein leeres Sy-
ſtem metaphyſiſcher Speculationen zu zwängen. Daß er die Idee des
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[578/0589] Periode der Morphologie. hangs der metaphyſiſchen Grundformen der Erkenntniß mit jenen zu ſehr, als daß er nicht die Gegner des Empirismus hätte zur entgegen- geſetzten Auffaſſung verleiten ſollen. Andrerſeits erregte die Verſchie- denartigkeit der Objecte und der von ihnen gemachten Vorſtellung Aufmerkſamkeit und forderte zur Löſung auf; man glaubte noch einen Beweis nöthig zu haben, daß beide und wie ſie übereinſtimmen können. Hierzu benutzte Leibnitz einmal die Annahme, daß die allgemeine Er- kenntniß wenigſtens der Anlage nach angeboren ſei, und dann erfand er die Hypotheſe der präſtabilirten Harmonie zwiſchen der Natur und dem Geiſte. Durch Kant hätte wohl die Frage gelöſt ſein können, als er auf die Verſchiedenheit des Anfangs und des Urſprungs der Erkennt- niß hinwies, womit auch der zweideutige Ausdruck des Aprioriſchen ſeine beſtimmte Erklärung erhielt. Doch gab er durch die Unterſchei- dung der metaphyſiſchen Erkenntniß von einer rein philoſophiſchen oder transcendentalen, wobei er eine pſychologiſche Abſtraction mit einer metaphyſiſchen verwechſelte, Veranlaſſung dazu, daß das anthropolo- giſche Princip mit dem logiſchen verwechſelt wurde, Veranlaſſung „zu den beiden entgegengeſetzten Verirrungen in die öden Steppen der Scholaſtik und das unheimliche Dunkel des neoplatoniſchen Myſticis- mus“, wie letzterer zuerſt bei Fichte durchklingt. Beides erſcheint bei Schelling. Verleitet von jener Verwechſelung Kant's und getäuſcht durch die Amphibolie der Reflexionsbegriffe geräth er in völlig leere Abſtractionen und baut ſein ganzes Syſtem aus inhaltsloſen logiſchen Formeln auf, als deren letzte die totale Indifferenz der abſoluten Iden- tität erſcheint. Hierin liegt nach Schelling die ununterſcheidbare Ver- bindung von Subject und Object und dies nennt er die Selbſterkennt- niß Gottes. Natur und Geiſt werden daher auch identiſch und über Natur philoſophiren heißt ſo viel als die Natur ſchaffen. Er hat ſich nun zwar einen oberſten Grundſatz geſchaffen; aber ſtatt ihn an der Erfahrung zu prüfen und den einzelnen Begriffen und Ableitungen einen Inhalt zu geben, ſucht er die wenigen Thatſachen, mit denen er überhaupt und dann nur ſehr oberflächlich verkehrt, in ein leeres Sy- ſtem metaphyſiſcher Speculationen zu zwängen. Daß er die Idee des Abſoluten und die Bedeutung derſelben als Grenzbeſtimmung der

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Zitationshilfe: Carus, Julius Victor: Geschichte der Zoologie bis auf Johannes Müller und Charles Darwin. München, 1872, S. 578. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_zoologie_1872/589>, abgerufen am 22.11.2024.