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Carus, Julius Victor: Geschichte der Zoologie bis auf Johannes Müller und Charles Darwin. München, 1872.

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Periode der Systematik.
gischen Sammlung hatte und die seinige nach seinem Tode an dies In-
stitut kam. Obschon er eigentlich Mathematiker und Physiker war, be-
schäftigte er sich doch fast mit allen Zweigen der Naturwissenschaften,
besonders mit zoologischen Untersuchungen. Sind auch einzelne Arbei-
ten von ihm über Brütversuche mit Vogeleiern, über den Zitterrochen
u. a. vorhanden, so ist doch das bedeutendste, was er in dieser Wissen-
schaft geleistet hat, die große Reihe von Beobachtungen über die Le-
bensgeschichte der Insecten. Sie erschienen als "Abhandlungen zur
Naturgeschichte der Insecten" in sechs Bänden von 1734-1742.
Seine Arbeiten, welche nicht streng nach einer systematischen Ordnung,
im Allgemeinen aber wohl nach gewissen natürlichen Gruppen zusam-
mengestellt sind, zeichnen sich durch eine so geduldige Ausdauer und
scharfsinnige Beobachtung aus, daß sie geradezu als Muster für ähn-
liche Untersuchungen anzusehen sind. Aus dem umfangreichen Werke
einen Auszug zu geben, wäre nur in einer ganz speciellen Darstellung
der Geschichte der Entomologie möglich. Seine Untersuchungen be-
ziehen sich nicht bloß auf die eigentliche Verwandlungsgeschichte und die
Lebensart der einzelnen Stände, sondern auf die ganze Lebensweise.
Es finden sich daher überall werthvolle Mittheilungen z. B. über das
gesellige Leben der socialen Arten, über die Pflanzen auf denen die In-
secten leben, über ihre Feinde u. dergl. mehr. Ein einziges Beispiel
wird genügen, um den außerordentlichen Fortschritt erkennen zu lassen,
welcher seit dem letzten Viertel des siebzehnten Jahrhunderts eingetre-
ten war. Zu jener Zeit hatte Andreas Picus, Pfarrer zu Byhol-
stein in Württemberg "Ein Büchlein oder Tractätlein Von den Bienen"
herausgegeben (Erfurt 1677), worin er unter Andern sagt, daß es
Männlein und Weiblein unter den Bienen nicht gebe; doch werden sie
in drei Haufen getheilt: Könige, welche in den großen Löchlein geboren
werden, Immen, welche Wachs eintragen, woraus sie Wefel und Ho-
nig machen, und Thränen (fuci), welche "von ihnen selbst" und nicht,
wie etliche meinen, von den Immen erzeugt werden und ihre fremde
Brut in die Löchlein legen. Reaumur bediente sich zur Beobachtung
zuerst gläserner Wände bei seinen Stöcken, durch welche er die Bienen
arbeiten sah. Er constatirte dabei, daß die früher meist König genannte

Periode der Syſtematik.
giſchen Sammlung hatte und die ſeinige nach ſeinem Tode an dies In-
ſtitut kam. Obſchon er eigentlich Mathematiker und Phyſiker war, be-
ſchäftigte er ſich doch faſt mit allen Zweigen der Naturwiſſenſchaften,
beſonders mit zoologiſchen Unterſuchungen. Sind auch einzelne Arbei-
ten von ihm über Brütverſuche mit Vogeleiern, über den Zitterrochen
u. a. vorhanden, ſo iſt doch das bedeutendſte, was er in dieſer Wiſſen-
ſchaft geleiſtet hat, die große Reihe von Beobachtungen über die Le-
bensgeſchichte der Inſecten. Sie erſchienen als „Abhandlungen zur
Naturgeſchichte der Inſecten“ in ſechs Bänden von 1734-1742.
Seine Arbeiten, welche nicht ſtreng nach einer ſyſtematiſchen Ordnung,
im Allgemeinen aber wohl nach gewiſſen natürlichen Gruppen zuſam-
mengeſtellt ſind, zeichnen ſich durch eine ſo geduldige Ausdauer und
ſcharfſinnige Beobachtung aus, daß ſie geradezu als Muſter für ähn-
liche Unterſuchungen anzuſehen ſind. Aus dem umfangreichen Werke
einen Auszug zu geben, wäre nur in einer ganz ſpeciellen Darſtellung
der Geſchichte der Entomologie möglich. Seine Unterſuchungen be-
ziehen ſich nicht bloß auf die eigentliche Verwandlungsgeſchichte und die
Lebensart der einzelnen Stände, ſondern auf die ganze Lebensweiſe.
Es finden ſich daher überall werthvolle Mittheilungen z. B. über das
geſellige Leben der ſocialen Arten, über die Pflanzen auf denen die In-
ſecten leben, über ihre Feinde u. dergl. mehr. Ein einziges Beiſpiel
wird genügen, um den außerordentlichen Fortſchritt erkennen zu laſſen,
welcher ſeit dem letzten Viertel des ſiebzehnten Jahrhunderts eingetre-
ten war. Zu jener Zeit hatte Andreas Picus, Pfarrer zu Byhol-
ſtein in Württemberg „Ein Büchlein oder Tractätlein Von den Bienen“
herausgegeben (Erfurt 1677), worin er unter Andern ſagt, daß es
Männlein und Weiblein unter den Bienen nicht gebe; doch werden ſie
in drei Haufen getheilt: Könige, welche in den großen Löchlein geboren
werden, Immen, welche Wachs eintragen, woraus ſie Wefel und Ho-
nig machen, und Thränen (fuci), welche „von ihnen ſelbſt“ und nicht,
wie etliche meinen, von den Immen erzeugt werden und ihre fremde
Brut in die Löchlein legen. Reaumur bediente ſich zur Beobachtung
zuerſt gläſerner Wände bei ſeinen Stöcken, durch welche er die Bienen
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[460/0471] Periode der Syſtematik. giſchen Sammlung hatte und die ſeinige nach ſeinem Tode an dies In- ſtitut kam. Obſchon er eigentlich Mathematiker und Phyſiker war, be- ſchäftigte er ſich doch faſt mit allen Zweigen der Naturwiſſenſchaften, beſonders mit zoologiſchen Unterſuchungen. Sind auch einzelne Arbei- ten von ihm über Brütverſuche mit Vogeleiern, über den Zitterrochen u. a. vorhanden, ſo iſt doch das bedeutendſte, was er in dieſer Wiſſen- ſchaft geleiſtet hat, die große Reihe von Beobachtungen über die Le- bensgeſchichte der Inſecten. Sie erſchienen als „Abhandlungen zur Naturgeſchichte der Inſecten“ in ſechs Bänden von 1734-1742. Seine Arbeiten, welche nicht ſtreng nach einer ſyſtematiſchen Ordnung, im Allgemeinen aber wohl nach gewiſſen natürlichen Gruppen zuſam- mengeſtellt ſind, zeichnen ſich durch eine ſo geduldige Ausdauer und ſcharfſinnige Beobachtung aus, daß ſie geradezu als Muſter für ähn- liche Unterſuchungen anzuſehen ſind. Aus dem umfangreichen Werke einen Auszug zu geben, wäre nur in einer ganz ſpeciellen Darſtellung der Geſchichte der Entomologie möglich. Seine Unterſuchungen be- ziehen ſich nicht bloß auf die eigentliche Verwandlungsgeſchichte und die Lebensart der einzelnen Stände, ſondern auf die ganze Lebensweiſe. Es finden ſich daher überall werthvolle Mittheilungen z. B. über das geſellige Leben der ſocialen Arten, über die Pflanzen auf denen die In- ſecten leben, über ihre Feinde u. dergl. mehr. Ein einziges Beiſpiel wird genügen, um den außerordentlichen Fortſchritt erkennen zu laſſen, welcher ſeit dem letzten Viertel des ſiebzehnten Jahrhunderts eingetre- ten war. Zu jener Zeit hatte Andreas Picus, Pfarrer zu Byhol- ſtein in Württemberg „Ein Büchlein oder Tractätlein Von den Bienen“ herausgegeben (Erfurt 1677), worin er unter Andern ſagt, daß es Männlein und Weiblein unter den Bienen nicht gebe; doch werden ſie in drei Haufen getheilt: Könige, welche in den großen Löchlein geboren werden, Immen, welche Wachs eintragen, woraus ſie Wefel und Ho- nig machen, und Thränen (fuci), welche „von ihnen ſelbſt“ und nicht, wie etliche meinen, von den Immen erzeugt werden und ihre fremde Brut in die Löchlein legen. Reaumur bediente ſich zur Beobachtung zuerſt gläſerner Wände bei ſeinen Stöcken, durch welche er die Bienen arbeiten ſah. Er conſtatirte dabei, daß die früher meiſt König genannte

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Zitationshilfe: Carus, Julius Victor: Geschichte der Zoologie bis auf Johannes Müller und Charles Darwin. München, 1872, S. 460. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_zoologie_1872/471>, abgerufen am 15.08.2024.