Simplicissimus treffend bemerkt5). Manche Thiere übertreffen ihn an Größe, Stärke, am Gesicht, "die Löwen mit ihrer hertzhafftigen Groß- müthigkeit", u. s. f. "Aber der Mensch geht ihnen allen vor mit der Sprach". Bei dieser erzeigt sich Vernunft und Verstand, was bei Thieren, auch wenn sie reden lernen, mangelt. Diese Anführungen weisen in einer kaum miszuverstehenden Weise darauf hin, wie trotz des gesellschaftlichen Elends in Deutschland die fort erhaltene Kenntniß vom Leben der Natur zu den werthvolleren geistigen Besitzthümern ge- rechnet wurde, wie tief sich manche Beziehungen zwischen Thier- und Pflanzenwelt, manche vorbildliche Aehnlichkeit mit menschlichem Thun und Leiden in das Volksbewußtsein eingeprägt haben mußte.
Glücklicherweise wird diese Liebe zur Natur nicht niedergehalten, durch die deistische Färbung der verbreitetsten Form der Weltanschau- ung sogar gefördert. Sie führt zu allgemeiner Betheiligung am Sam- meln, Beschreiben, Beobachten. Und schon am Ausgange des sieb- zehnten Jahrhunderts hat dies so viel Früchte getragen, daß man nun von selbst darauf geführt wurde, sich nach einem bestimmten, die Ein- zelheiten zusammenfassenden Bande umzusehen. Für die Wissenschaft der belebten Natur konnte hierfür allerdings noch kein durchgreifender Gedanke aufgestellt werden. Denn wenn schon seit Descartes auch in diesen Fächern Kritik möglich gewesen wäre, so ließen doch Spinoza und selbst Leibnitz zu viel Raum für supra-naturalistische Auffassun- gen, als daß solche nicht auch mit Freuden eingeführt worden wären. Newton's Läuterung der physikalischen Lehre von metaphysischen Erklärungen mußte für die Zoologie noch unfruchtbar bleiben und selbst seine methodologischen Vorschriften ließen wenigstens fürs erste noch die rechte Anwendbarkeit auf die Lehre vom Leben und seinen Trägern vermissen. Trotzdem aber suchte die sich hier wesentlich als beschrei- bende Wissenschaft herausbildende Zoologie eine Einheit und zwar fand sie dieselbe in der Neugestaltung ihrer formalen Seite. So lange es noch nicht möglich war, die in der belebten Natur vorkommenden Be- wegungen -- nicht bloß die plötzlichen und schnellen, wie Ortsbewe-
5) ebenda, 2. Bd. S. 1052.
Periode der Syſtematik.
Simpliciſſimus treffend bemerkt5). Manche Thiere übertreffen ihn an Größe, Stärke, am Geſicht, „die Löwen mit ihrer hertzhafftigen Groß- müthigkeit“, u. ſ. f. „Aber der Menſch geht ihnen allen vor mit der Sprach“. Bei dieſer erzeigt ſich Vernunft und Verſtand, was bei Thieren, auch wenn ſie reden lernen, mangelt. Dieſe Anführungen weiſen in einer kaum miszuverſtehenden Weiſe darauf hin, wie trotz des geſellſchaftlichen Elends in Deutſchland die fort erhaltene Kenntniß vom Leben der Natur zu den werthvolleren geiſtigen Beſitzthümern ge- rechnet wurde, wie tief ſich manche Beziehungen zwiſchen Thier- und Pflanzenwelt, manche vorbildliche Aehnlichkeit mit menſchlichem Thun und Leiden in das Volksbewußtſein eingeprägt haben mußte.
Glücklicherweiſe wird dieſe Liebe zur Natur nicht niedergehalten, durch die deiſtiſche Färbung der verbreitetſten Form der Weltanſchau- ung ſogar gefördert. Sie führt zu allgemeiner Betheiligung am Sam- meln, Beſchreiben, Beobachten. Und ſchon am Ausgange des ſieb- zehnten Jahrhunderts hat dies ſo viel Früchte getragen, daß man nun von ſelbſt darauf geführt wurde, ſich nach einem beſtimmten, die Ein- zelheiten zuſammenfaſſenden Bande umzuſehen. Für die Wiſſenſchaft der belebten Natur konnte hierfür allerdings noch kein durchgreifender Gedanke aufgeſtellt werden. Denn wenn ſchon ſeit Descartes auch in dieſen Fächern Kritik möglich geweſen wäre, ſo ließen doch Spinoza und ſelbſt Leibnitz zu viel Raum für ſupra-naturaliſtiſche Auffaſſun- gen, als daß ſolche nicht auch mit Freuden eingeführt worden wären. Newton's Läuterung der phyſikaliſchen Lehre von metaphyſiſchen Erklärungen mußte für die Zoologie noch unfruchtbar bleiben und ſelbſt ſeine methodologiſchen Vorſchriften ließen wenigſtens fürs erſte noch die rechte Anwendbarkeit auf die Lehre vom Leben und ſeinen Trägern vermiſſen. Trotzdem aber ſuchte die ſich hier weſentlich als beſchrei- bende Wiſſenſchaft herausbildende Zoologie eine Einheit und zwar fand ſie dieſelbe in der Neugeſtaltung ihrer formalen Seite. So lange es noch nicht möglich war, die in der belebten Natur vorkommenden Be- wegungen — nicht bloß die plötzlichen und ſchnellen, wie Ortsbewe-
5) ebenda, 2. Bd. S. 1052.
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Periode der Syſtematik.
Simpliciſſimus treffend bemerkt 5). Manche Thiere übertreffen ihn an
Größe, Stärke, am Geſicht, „die Löwen mit ihrer hertzhafftigen Groß-
müthigkeit“, u. ſ. f. „Aber der Menſch geht ihnen allen vor mit der
Sprach“. Bei dieſer erzeigt ſich Vernunft und Verſtand, was bei
Thieren, auch wenn ſie reden lernen, mangelt. Dieſe Anführungen
weiſen in einer kaum miszuverſtehenden Weiſe darauf hin, wie trotz
des geſellſchaftlichen Elends in Deutſchland die fort erhaltene Kenntniß
vom Leben der Natur zu den werthvolleren geiſtigen Beſitzthümern ge-
rechnet wurde, wie tief ſich manche Beziehungen zwiſchen Thier- und
Pflanzenwelt, manche vorbildliche Aehnlichkeit mit menſchlichem Thun
und Leiden in das Volksbewußtſein eingeprägt haben mußte.
Glücklicherweiſe wird dieſe Liebe zur Natur nicht niedergehalten,
durch die deiſtiſche Färbung der verbreitetſten Form der Weltanſchau-
ung ſogar gefördert. Sie führt zu allgemeiner Betheiligung am Sam-
meln, Beſchreiben, Beobachten. Und ſchon am Ausgange des ſieb-
zehnten Jahrhunderts hat dies ſo viel Früchte getragen, daß man nun
von ſelbſt darauf geführt wurde, ſich nach einem beſtimmten, die Ein-
zelheiten zuſammenfaſſenden Bande umzuſehen. Für die Wiſſenſchaft
der belebten Natur konnte hierfür allerdings noch kein durchgreifender
Gedanke aufgeſtellt werden. Denn wenn ſchon ſeit Descartes auch in
dieſen Fächern Kritik möglich geweſen wäre, ſo ließen doch Spinoza
und ſelbſt Leibnitz zu viel Raum für ſupra-naturaliſtiſche Auffaſſun-
gen, als daß ſolche nicht auch mit Freuden eingeführt worden wären.
Newton's Läuterung der phyſikaliſchen Lehre von metaphyſiſchen
Erklärungen mußte für die Zoologie noch unfruchtbar bleiben und ſelbſt
ſeine methodologiſchen Vorſchriften ließen wenigſtens fürs erſte noch die
rechte Anwendbarkeit auf die Lehre vom Leben und ſeinen Trägern
vermiſſen. Trotzdem aber ſuchte die ſich hier weſentlich als beſchrei-
bende Wiſſenſchaft herausbildende Zoologie eine Einheit und zwar fand
ſie dieſelbe in der Neugeſtaltung ihrer formalen Seite. So lange es
noch nicht möglich war, die in der belebten Natur vorkommenden Be-
wegungen — nicht bloß die plötzlichen und ſchnellen, wie Ortsbewe-
5) ebenda, 2. Bd. S. 1052.
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Carus, Julius Victor: Geschichte der Zoologie bis auf Johannes Müller und Charles Darwin. München, 1872, S. 390. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_zoologie_1872/401>, abgerufen am 22.11.2024.
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