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Carus, Julius Victor: Geschichte der Zoologie bis auf Johannes Müller und Charles Darwin. München, 1872.

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Physiologus.
tenden Stelle nach vielmehr auf die Natur des Menschen, auf Pneu-
matologie und Metempsychose, als auf die Naturgeschichte der Thiere
bezogen haben mag70), weist schon Pitra mit Recht darauf hin, daß
die Thierschilderungen älter, die angefügten Erklärungen oder Mora-
lisationen jünger sind, als Tatian, wie ja letztere selbst noch im syri-
schen und im ältesten lateinischen Physiologus fehlen.

Pitra hebt als Momente, welche auf die Art und den Ort der
Entstehung des Physiologus Licht werfen, hervor, daß die meisten in
demselben erwähnten Thiere alten Göttern heilig gewesen wären, und
daß deren so sehr verschiedenes Vaterland auf eine Stätte hinweisen,
wo gewissermaßen die von dem durch Titanen zerstörten Olymp fliehen-
den Götter Zuflucht und Schutz unter dem Abbild von Thieren gefun-
den hätten. Dies würde von Belang sein, wenn sich keine andere ein-
fachere Erklärung für die merkwürdige Zusammensetzung ergäbe. Be-
trachtet man indeß die Thiere des Physiologus als biblische, so fällt
jeder Grund, sich nach andern Beweggründen für gerade diese aller-
dings eigenthümliche Auswahl umzusehen, fort. Nur das eine bleibt
auf den ersten Blick wunderbar, daß die eigentliche Ekphrasis, die Na-
turschilderung, gegenüber der Hermeneia, der moralischen Auslegung,
sich kaum einmal an naturgeschichtliche Autoritäten, wie Aristoteles,
Theophrast und ähnliche anschließt. Wie aus dem obigen Quellennach-
weise hervorgeht, lassen sich mehrere Angaben zwar im Allgemeinen
auf Aristoteles zurückführen. Doch sind die wahrscheinlich direct be-
nutzten Quellen unter jenen schon früher erwähnten alexandrinischen
Sammlungen zu suchen, welche, zur Zeit des Ausgangs des Alter-
thums entstanden, Zeugniß für den Mangel sowohl kritischen Sinnes
als überhaupt rein naturwissenschaftlichen Interesses ablegen. Da das
Gefühl noch nicht erwacht war, daß die bloße Mittheilung von That-
sachen als solcher zur Gründung einer wissenschaftlichen Lehre nicht ge-
nüge, da das Bedürfniß einer Bestätigung der Angaben noch nicht
vorhanden war, muthete das Wunderbare und dadurch an sich Reiz-
vollere mehr an, wie es auch nutzbringender verwendet werden konnte.

70) s. Daniel, Tatian der Apologet. Halle, 1837. S. 112.

Phyſiologus.
tenden Stelle nach vielmehr auf die Natur des Menſchen, auf Pneu-
matologie und Metempſychoſe, als auf die Naturgeſchichte der Thiere
bezogen haben mag70), weiſt ſchon Pitra mit Recht darauf hin, daß
die Thierſchilderungen älter, die angefügten Erklärungen oder Mora-
liſationen jünger ſind, als Tatian, wie ja letztere ſelbſt noch im ſyri-
ſchen und im älteſten lateiniſchen Phyſiologus fehlen.

Pitra hebt als Momente, welche auf die Art und den Ort der
Entſtehung des Phyſiologus Licht werfen, hervor, daß die meiſten in
demſelben erwähnten Thiere alten Göttern heilig geweſen wären, und
daß deren ſo ſehr verſchiedenes Vaterland auf eine Stätte hinweiſen,
wo gewiſſermaßen die von dem durch Titanen zerſtörten Olymp fliehen-
den Götter Zuflucht und Schutz unter dem Abbild von Thieren gefun-
den hätten. Dies würde von Belang ſein, wenn ſich keine andere ein-
fachere Erklärung für die merkwürdige Zuſammenſetzung ergäbe. Be-
trachtet man indeß die Thiere des Phyſiologus als bibliſche, ſo fällt
jeder Grund, ſich nach andern Beweggründen für gerade dieſe aller-
dings eigenthümliche Auswahl umzuſehen, fort. Nur das eine bleibt
auf den erſten Blick wunderbar, daß die eigentliche Ekphraſis, die Na-
turſchilderung, gegenüber der Hermeneia, der moraliſchen Auslegung,
ſich kaum einmal an naturgeſchichtliche Autoritäten, wie Ariſtoteles,
Theophraſt und ähnliche anſchließt. Wie aus dem obigen Quellennach-
weiſe hervorgeht, laſſen ſich mehrere Angaben zwar im Allgemeinen
auf Ariſtoteles zurückführen. Doch ſind die wahrſcheinlich direct be-
nutzten Quellen unter jenen ſchon früher erwähnten alexandriniſchen
Sammlungen zu ſuchen, welche, zur Zeit des Ausgangs des Alter-
thums entſtanden, Zeugniß für den Mangel ſowohl kritiſchen Sinnes
als überhaupt rein naturwiſſenſchaftlichen Intereſſes ablegen. Da das
Gefühl noch nicht erwacht war, daß die bloße Mittheilung von That-
ſachen als ſolcher zur Gründung einer wiſſenſchaftlichen Lehre nicht ge-
nüge, da das Bedürfniß einer Beſtätigung der Angaben noch nicht
vorhanden war, muthete das Wunderbare und dadurch an ſich Reiz-
vollere mehr an, wie es auch nutzbringender verwendet werden konnte.

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[141/0152] Phyſiologus. tenden Stelle nach vielmehr auf die Natur des Menſchen, auf Pneu- matologie und Metempſychoſe, als auf die Naturgeſchichte der Thiere bezogen haben mag 70), weiſt ſchon Pitra mit Recht darauf hin, daß die Thierſchilderungen älter, die angefügten Erklärungen oder Mora- liſationen jünger ſind, als Tatian, wie ja letztere ſelbſt noch im ſyri- ſchen und im älteſten lateiniſchen Phyſiologus fehlen. Pitra hebt als Momente, welche auf die Art und den Ort der Entſtehung des Phyſiologus Licht werfen, hervor, daß die meiſten in demſelben erwähnten Thiere alten Göttern heilig geweſen wären, und daß deren ſo ſehr verſchiedenes Vaterland auf eine Stätte hinweiſen, wo gewiſſermaßen die von dem durch Titanen zerſtörten Olymp fliehen- den Götter Zuflucht und Schutz unter dem Abbild von Thieren gefun- den hätten. Dies würde von Belang ſein, wenn ſich keine andere ein- fachere Erklärung für die merkwürdige Zuſammenſetzung ergäbe. Be- trachtet man indeß die Thiere des Phyſiologus als bibliſche, ſo fällt jeder Grund, ſich nach andern Beweggründen für gerade dieſe aller- dings eigenthümliche Auswahl umzuſehen, fort. Nur das eine bleibt auf den erſten Blick wunderbar, daß die eigentliche Ekphraſis, die Na- turſchilderung, gegenüber der Hermeneia, der moraliſchen Auslegung, ſich kaum einmal an naturgeſchichtliche Autoritäten, wie Ariſtoteles, Theophraſt und ähnliche anſchließt. Wie aus dem obigen Quellennach- weiſe hervorgeht, laſſen ſich mehrere Angaben zwar im Allgemeinen auf Ariſtoteles zurückführen. Doch ſind die wahrſcheinlich direct be- nutzten Quellen unter jenen ſchon früher erwähnten alexandriniſchen Sammlungen zu ſuchen, welche, zur Zeit des Ausgangs des Alter- thums entſtanden, Zeugniß für den Mangel ſowohl kritiſchen Sinnes als überhaupt rein naturwiſſenſchaftlichen Intereſſes ablegen. Da das Gefühl noch nicht erwacht war, daß die bloße Mittheilung von That- ſachen als ſolcher zur Gründung einer wiſſenſchaftlichen Lehre nicht ge- nüge, da das Bedürfniß einer Beſtätigung der Angaben noch nicht vorhanden war, muthete das Wunderbare und dadurch an ſich Reiz- vollere mehr an, wie es auch nutzbringender verwendet werden konnte. 70) ſ. Daniel, Tatian der Apologet. Halle, 1837. S. 112.

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Zitationshilfe: Carus, Julius Victor: Geschichte der Zoologie bis auf Johannes Müller und Charles Darwin. München, 1872, S. 141. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_zoologie_1872/152>, abgerufen am 22.11.2024.