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Carus, Julius Victor: Geschichte der Zoologie bis auf Johannes Müller und Charles Darwin. München, 1872.

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Die Zoologie des Mittelalters.
der Eigenschaften der Schlangen: "wie die Naturkundigen sagen (os
phasin oi phusiologoi)".

Für die Ansicht, daß der Physiologus ursprünglich nur Thiere der
Bibel enthalten habe, spricht zunächst der Umstand, daß in den ein-
facheren älteren Formen desselben, z. B. dem syrischen, jede Moralisa-
tion fehlt, dagegen bei der Mehrzahl der Thiere eine Bibelstelle citirt
oder wenigstens durch einen allgemeinen Hinweis erwähnt wird, wie:
"das Gesetz sagt", oder "Johannes, Salomon, David
führt an" u. s. w.
Fast möchte man an einen bibelkundigen Verfasser denken, wenn es in
einzelnen Fällen heißt: "der Physiologus sagt vom Vogel Ibis, daß er
nach dem Gesetz ein unreiner Vogel sei"38). Dies ist indeß sicher nicht
die ursprüngliche Form, in welcher der betreffende Abschnitt auftrat,
sondern wahrscheinlich eine durch einen spätern Uebersetzer hineinge-
brachte Redeweise. Einen weiteren Beweis für die biblische Herkunft
der Thiere im Physiologus ergibt die Thatsache, daß sie fast sämmtlich
auf Bibelstellen zurückgeführt werden können. Hierdurch wird vor
Allem die merkwürdige Zusammenstellung erklärt.

Nun enthält aber das von den Thieren Ausgesagte nicht etwa eine
vollständige Naturschilderung, ja nicht einmal das die Arten vorzüg-
lich Charakterisirende, sondern entweder einen durch die betreffende
Bibelstelle direct dargebotenen Zug aus der Lebensgeschichte des Thie-
res, welcher sich durch naturgeschichtliche Schriftsteller des Alterthums
bestätigen läßt, oder irgend eine Erzählung, welche, wenn sie nur eini-
germaßen mit dem über das Thier sonst Bekannten zu vereinigen ist,
der allegorischen Deutung eine bequeme Handhabe darbieten konnte.
Diese letztere steht in den älteren Formen, z. B. dem griechischen Phy-
siologus, noch selbständig der naturgeschichtlichen Notiz gegenüber,
drängte aber in den spätern Bearbeitungen das eigentlich "Physiolo-
gische" immer mehr in den Hintergrund. Wie sehr diese Allegorien und

de Leon in der Vorrede zu seiner Ausgabe des Physiologus, neuerdings Goldbeck
(bei Mätzner a. a. O.) aufmerksam gemacht.
38) So im
Physiologus syrus; auch beginnt ein griechischer (Handschrift
des 15. Jahrh.): on esti kata ton nomon e ibis; kolumban ouk oede
u. s. w.

Die Zoologie des Mittelalters.
der Eigenſchaften der Schlangen: „wie die Naturkundigen ſagen (ὥς
φασιν οἱ φυσιολόγοι)“.

Für die Anſicht, daß der Phyſiologus urſprünglich nur Thiere der
Bibel enthalten habe, ſpricht zunächſt der Umſtand, daß in den ein-
facheren älteren Formen deſſelben, z. B. dem ſyriſchen, jede Moraliſa-
tion fehlt, dagegen bei der Mehrzahl der Thiere eine Bibelſtelle citirt
oder wenigſtens durch einen allgemeinen Hinweis erwähnt wird, wie:
„das Geſetz ſagt“, oder „Johannes, Salomon, David
führt an“ u. ſ. w.
Faſt möchte man an einen bibelkundigen Verfaſſer denken, wenn es in
einzelnen Fällen heißt: „der Phyſiologus ſagt vom Vogel Ibis, daß er
nach dem Geſetz ein unreiner Vogel ſei“38). Dies iſt indeß ſicher nicht
die urſprüngliche Form, in welcher der betreffende Abſchnitt auftrat,
ſondern wahrſcheinlich eine durch einen ſpätern Ueberſetzer hineinge-
brachte Redeweiſe. Einen weiteren Beweis für die bibliſche Herkunft
der Thiere im Phyſiologus ergibt die Thatſache, daß ſie faſt ſämmtlich
auf Bibelſtellen zurückgeführt werden können. Hierdurch wird vor
Allem die merkwürdige Zuſammenſtellung erklärt.

Nun enthält aber das von den Thieren Ausgeſagte nicht etwa eine
vollſtändige Naturſchilderung, ja nicht einmal das die Arten vorzüg-
lich Charakteriſirende, ſondern entweder einen durch die betreffende
Bibelſtelle direct dargebotenen Zug aus der Lebensgeſchichte des Thie-
res, welcher ſich durch naturgeſchichtliche Schriftſteller des Alterthums
beſtätigen läßt, oder irgend eine Erzählung, welche, wenn ſie nur eini-
germaßen mit dem über das Thier ſonſt Bekannten zu vereinigen iſt,
der allegoriſchen Deutung eine bequeme Handhabe darbieten konnte.
Dieſe letztere ſteht in den älteren Formen, z. B. dem griechiſchen Phy-
ſiologus, noch ſelbſtändig der naturgeſchichtlichen Notiz gegenüber,
drängte aber in den ſpätern Bearbeitungen das eigentlich „Phyſiolo-
giſche“ immer mehr in den Hintergrund. Wie ſehr dieſe Allegorien und

de Leon in der Vorrede zu ſeiner Ausgabe des Phyſiologus, neuerdings Goldbeck
(bei Mätzner a. a. O.) aufmerkſam gemacht.
38) So im
Physiologus syrus; auch beginnt ein griechiſcher (Handſchrift
des 15. Jahrh.): όν ἐστι κατὰ τὸν νόμον ἡ ῖβις· κολυμβᾶν οὐκ οἦδε
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[120/0131] Die Zoologie des Mittelalters. der Eigenſchaften der Schlangen: „wie die Naturkundigen ſagen (ὥς φασιν οἱ φυσιολόγοι)“. Für die Anſicht, daß der Phyſiologus urſprünglich nur Thiere der Bibel enthalten habe, ſpricht zunächſt der Umſtand, daß in den ein- facheren älteren Formen deſſelben, z. B. dem ſyriſchen, jede Moraliſa- tion fehlt, dagegen bei der Mehrzahl der Thiere eine Bibelſtelle citirt oder wenigſtens durch einen allgemeinen Hinweis erwähnt wird, wie: „das Geſetz ſagt“, oder „Johannes, Salomon, David führt an“ u. ſ. w. Faſt möchte man an einen bibelkundigen Verfaſſer denken, wenn es in einzelnen Fällen heißt: „der Phyſiologus ſagt vom Vogel Ibis, daß er nach dem Geſetz ein unreiner Vogel ſei“ 38). Dies iſt indeß ſicher nicht die urſprüngliche Form, in welcher der betreffende Abſchnitt auftrat, ſondern wahrſcheinlich eine durch einen ſpätern Ueberſetzer hineinge- brachte Redeweiſe. Einen weiteren Beweis für die bibliſche Herkunft der Thiere im Phyſiologus ergibt die Thatſache, daß ſie faſt ſämmtlich auf Bibelſtellen zurückgeführt werden können. Hierdurch wird vor Allem die merkwürdige Zuſammenſtellung erklärt. Nun enthält aber das von den Thieren Ausgeſagte nicht etwa eine vollſtändige Naturſchilderung, ja nicht einmal das die Arten vorzüg- lich Charakteriſirende, ſondern entweder einen durch die betreffende Bibelſtelle direct dargebotenen Zug aus der Lebensgeſchichte des Thie- res, welcher ſich durch naturgeſchichtliche Schriftſteller des Alterthums beſtätigen läßt, oder irgend eine Erzählung, welche, wenn ſie nur eini- germaßen mit dem über das Thier ſonſt Bekannten zu vereinigen iſt, der allegoriſchen Deutung eine bequeme Handhabe darbieten konnte. Dieſe letztere ſteht in den älteren Formen, z. B. dem griechiſchen Phy- ſiologus, noch ſelbſtändig der naturgeſchichtlichen Notiz gegenüber, drängte aber in den ſpätern Bearbeitungen das eigentlich „Phyſiolo- giſche“ immer mehr in den Hintergrund. Wie ſehr dieſe Allegorien und 37) 38) So im Physiologus syrus; auch beginnt ein griechiſcher (Handſchrift des 15. Jahrh.): όν ἐστι κατὰ τὸν νόμον ἡ ῖβις· κολυμβᾶν οὐκ οἦδε u. ſ. w. 37) de Leon in der Vorrede zu ſeiner Ausgabe des Phyſiologus, neuerdings Goldbeck (bei Mätzner a. a. O.) aufmerkſam gemacht.

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Zitationshilfe: Carus, Julius Victor: Geschichte der Zoologie bis auf Johannes Müller und Charles Darwin. München, 1872, S. 120. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_zoologie_1872/131>, abgerufen am 25.11.2024.