Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Carus, Julius Victor: Geschichte der Zoologie bis auf Johannes Müller und Charles Darwin. München, 1872.

Bild:
<< vorherige Seite

Die Zoologie des Mittelalters.
waren, beweisen die Thatsachen, daß noch auf den Concilen von Tours
und Paris (1163 und 1209) das sündhafte Lesen physikalischer Schrif-
ten den Mönchen untersagt wurde. Daß dabei der Aberglaube in allen
Gestalten, Astrologie und Geheimmittel, Reliquiendienst und Wunder-
glaube üppig gedeihen konnte, versteht sich von selbst.

Es ist nun nicht zu verwundern, wenn bei diesem engen Anschluß
alles sogenannten Wissens an Gegenstände der Kirche und des Glau-
bens auch diejenige Richtung in der Bearbeitung der Natur- oder spe-
ciell Thiergeschichte die einzig geduldete war, welche sich mit allerhand
Allegorien den Bedürfnissen des moralisirenden und auf das Gewissen
wirkenden Predigers anbequemte. Im achten und neunten Jahrhundert
wurden zwar mehrere bedeutende Schriften über Natur und Welt ver-
faßt; so von Beda (de natura rerum), von Hrabanus Maurus
(de universo) und Johannes Scotus Erigena (de divisione
naturae
). Doch enthalten diese homiletischen oder philosophischen
Schriften entweder gar nichts von Thieren oder nur dogmatisirend sich
an die Schöpfungsgeschichte Anschließendes.

Eine höchst interessante Erscheinung ist diesem Allen gegenüber das
Vorhandensein einer nun etwas genauer zu betrachtenden Schrift,
welche fast tausend Jahre lang als elementares Lehrbuch für Zoologie
in Geltung gestanden zu haben scheint, deren früheste Geschichte aber
immer noch in ziemliches Dunkel gehüllt ist. Es ist dies der sogenannte

Physiologus.

Aus einer Betrachtung der Culturverhältnisse des früheren Mit-
telalters geht hervor, daß der Unterricht in den ersten christlichen Zeiten
keinen Raum zu einem näheren Bekanntwerden mit der belebten Natur
ließ und daß in Folge hiervon auch diejenigen, welche nach der über-
haupt möglichen Bildung strebten, unter dem immer schärfer sich äußern-
den Drucke kirchlicher Denkvorschriften zu keiner freieren Auffassung
lebender Wesen gelangen konnten, als sie der Schöpfungsmythus ergab.
Nun ist aber in keiner Periode der Geschichte der Menschheit, aus
welcher man litterarische Zeugnisse besitzt, ein vollständiger Mangel

Die Zoologie des Mittelalters.
waren, beweiſen die Thatſachen, daß noch auf den Concilen von Tours
und Paris (1163 und 1209) das ſündhafte Leſen phyſikaliſcher Schrif-
ten den Mönchen unterſagt wurde. Daß dabei der Aberglaube in allen
Geſtalten, Aſtrologie und Geheimmittel, Reliquiendienſt und Wunder-
glaube üppig gedeihen konnte, verſteht ſich von ſelbſt.

Es iſt nun nicht zu verwundern, wenn bei dieſem engen Anſchluß
alles ſogenannten Wiſſens an Gegenſtände der Kirche und des Glau-
bens auch diejenige Richtung in der Bearbeitung der Natur- oder ſpe-
ciell Thiergeſchichte die einzig geduldete war, welche ſich mit allerhand
Allegorien den Bedürfniſſen des moraliſirenden und auf das Gewiſſen
wirkenden Predigers anbequemte. Im achten und neunten Jahrhundert
wurden zwar mehrere bedeutende Schriften über Natur und Welt ver-
faßt; ſo von Beda (de natura rerum), von Hrabanus Maurus
(de universo) und Johannes Scotus Erigena (de divisione
naturae
). Doch enthalten dieſe homiletiſchen oder philoſophiſchen
Schriften entweder gar nichts von Thieren oder nur dogmatiſirend ſich
an die Schöpfungsgeſchichte Anſchließendes.

Eine höchſt intereſſante Erſcheinung iſt dieſem Allen gegenüber das
Vorhandenſein einer nun etwas genauer zu betrachtenden Schrift,
welche faſt tauſend Jahre lang als elementares Lehrbuch für Zoologie
in Geltung geſtanden zu haben ſcheint, deren früheſte Geſchichte aber
immer noch in ziemliches Dunkel gehüllt iſt. Es iſt dies der ſogenannte

Phyſiologus.

Aus einer Betrachtung der Culturverhältniſſe des früheren Mit-
telalters geht hervor, daß der Unterricht in den erſten chriſtlichen Zeiten
keinen Raum zu einem näheren Bekanntwerden mit der belebten Natur
ließ und daß in Folge hiervon auch diejenigen, welche nach der über-
haupt möglichen Bildung ſtrebten, unter dem immer ſchärfer ſich äußern-
den Drucke kirchlicher Denkvorſchriften zu keiner freieren Auffaſſung
lebender Weſen gelangen konnten, als ſie der Schöpfungsmythus ergab.
Nun iſt aber in keiner Periode der Geſchichte der Menſchheit, aus
welcher man litterariſche Zeugniſſe beſitzt, ein vollſtändiger Mangel

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0119" n="108"/><fw place="top" type="header">Die Zoologie des Mittelalters.</fw><lb/>
waren, bewei&#x017F;en die That&#x017F;achen, daß noch auf den Concilen von Tours<lb/>
und Paris (1163 und 1209) das &#x017F;ündhafte Le&#x017F;en phy&#x017F;ikali&#x017F;cher Schrif-<lb/>
ten den Mönchen unter&#x017F;agt wurde. Daß dabei der Aberglaube in allen<lb/>
Ge&#x017F;talten, A&#x017F;trologie und Geheimmittel, Reliquiendien&#x017F;t und Wunder-<lb/>
glaube üppig gedeihen konnte, ver&#x017F;teht &#x017F;ich von &#x017F;elb&#x017F;t.</p><lb/>
          <p>Es i&#x017F;t nun nicht zu verwundern, wenn bei die&#x017F;em engen An&#x017F;chluß<lb/>
alles &#x017F;ogenannten Wi&#x017F;&#x017F;ens an Gegen&#x017F;tände der Kirche und des Glau-<lb/>
bens auch diejenige Richtung in der Bearbeitung der Natur- oder &#x017F;pe-<lb/>
ciell Thierge&#x017F;chichte die einzig geduldete war, welche &#x017F;ich mit allerhand<lb/>
Allegorien den Bedürfni&#x017F;&#x017F;en des morali&#x017F;irenden und auf das Gewi&#x017F;&#x017F;en<lb/>
wirkenden Predigers anbequemte. Im achten und neunten Jahrhundert<lb/>
wurden zwar mehrere bedeutende Schriften über Natur und Welt ver-<lb/>
faßt; &#x017F;o von <hi rendition="#g"><persName ref="http://d-nb.info/gnd/118508237">Beda</persName></hi> (<hi rendition="#aq">de natura rerum</hi>), von <hi rendition="#g"><persName ref="http://d-nb.info/gnd/118553909">Hrabanus Maurus</persName></hi><lb/>
(<hi rendition="#aq">de universo</hi>) und <hi rendition="#g"><persName ref="http://d-nb.info/gnd/118557955">Johannes Scotus Erigena</persName></hi> (<hi rendition="#aq">de divisione<lb/>
naturae</hi>). Doch enthalten die&#x017F;e homileti&#x017F;chen oder philo&#x017F;ophi&#x017F;chen<lb/>
Schriften entweder gar nichts von Thieren oder nur dogmati&#x017F;irend &#x017F;ich<lb/>
an die Schöpfungsge&#x017F;chichte An&#x017F;chließendes.</p><lb/>
          <p>Eine höch&#x017F;t intere&#x017F;&#x017F;ante Er&#x017F;cheinung i&#x017F;t die&#x017F;em Allen gegenüber das<lb/>
Vorhanden&#x017F;ein einer nun etwas genauer zu betrachtenden Schrift,<lb/>
welche fa&#x017F;t tau&#x017F;end Jahre lang als elementares Lehrbuch für Zoologie<lb/>
in Geltung ge&#x017F;tanden zu haben &#x017F;cheint, deren frühe&#x017F;te Ge&#x017F;chichte aber<lb/>
immer noch in ziemliches Dunkel gehüllt i&#x017F;t. Es i&#x017F;t dies der &#x017F;ogenannte</p>
        </div><lb/>
        <div n="2">
          <head> <hi rendition="#b">Phy&#x017F;iologus.</hi> </head><lb/>
          <p>Aus einer Betrachtung der Culturverhältni&#x017F;&#x017F;e des früheren Mit-<lb/>
telalters geht hervor, daß der Unterricht in den er&#x017F;ten chri&#x017F;tlichen Zeiten<lb/>
keinen Raum zu einem näheren Bekanntwerden mit der belebten Natur<lb/>
ließ und daß in Folge hiervon auch diejenigen, welche nach der über-<lb/>
haupt möglichen Bildung &#x017F;trebten, unter dem immer &#x017F;chärfer &#x017F;ich äußern-<lb/>
den Drucke kirchlicher Denkvor&#x017F;chriften zu keiner freieren Auffa&#x017F;&#x017F;ung<lb/>
lebender We&#x017F;en gelangen konnten, als &#x017F;ie der Schöpfungsmythus ergab.<lb/>
Nun i&#x017F;t aber in keiner Periode der Ge&#x017F;chichte der Men&#x017F;chheit, aus<lb/>
welcher man litterari&#x017F;che Zeugni&#x017F;&#x017F;e be&#x017F;itzt, ein voll&#x017F;tändiger Mangel<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[108/0119] Die Zoologie des Mittelalters. waren, beweiſen die Thatſachen, daß noch auf den Concilen von Tours und Paris (1163 und 1209) das ſündhafte Leſen phyſikaliſcher Schrif- ten den Mönchen unterſagt wurde. Daß dabei der Aberglaube in allen Geſtalten, Aſtrologie und Geheimmittel, Reliquiendienſt und Wunder- glaube üppig gedeihen konnte, verſteht ſich von ſelbſt. Es iſt nun nicht zu verwundern, wenn bei dieſem engen Anſchluß alles ſogenannten Wiſſens an Gegenſtände der Kirche und des Glau- bens auch diejenige Richtung in der Bearbeitung der Natur- oder ſpe- ciell Thiergeſchichte die einzig geduldete war, welche ſich mit allerhand Allegorien den Bedürfniſſen des moraliſirenden und auf das Gewiſſen wirkenden Predigers anbequemte. Im achten und neunten Jahrhundert wurden zwar mehrere bedeutende Schriften über Natur und Welt ver- faßt; ſo von Beda (de natura rerum), von Hrabanus Maurus (de universo) und Johannes Scotus Erigena (de divisione naturae). Doch enthalten dieſe homiletiſchen oder philoſophiſchen Schriften entweder gar nichts von Thieren oder nur dogmatiſirend ſich an die Schöpfungsgeſchichte Anſchließendes. Eine höchſt intereſſante Erſcheinung iſt dieſem Allen gegenüber das Vorhandenſein einer nun etwas genauer zu betrachtenden Schrift, welche faſt tauſend Jahre lang als elementares Lehrbuch für Zoologie in Geltung geſtanden zu haben ſcheint, deren früheſte Geſchichte aber immer noch in ziemliches Dunkel gehüllt iſt. Es iſt dies der ſogenannte Phyſiologus. Aus einer Betrachtung der Culturverhältniſſe des früheren Mit- telalters geht hervor, daß der Unterricht in den erſten chriſtlichen Zeiten keinen Raum zu einem näheren Bekanntwerden mit der belebten Natur ließ und daß in Folge hiervon auch diejenigen, welche nach der über- haupt möglichen Bildung ſtrebten, unter dem immer ſchärfer ſich äußern- den Drucke kirchlicher Denkvorſchriften zu keiner freieren Auffaſſung lebender Weſen gelangen konnten, als ſie der Schöpfungsmythus ergab. Nun iſt aber in keiner Periode der Geſchichte der Menſchheit, aus welcher man litterariſche Zeugniſſe beſitzt, ein vollſtändiger Mangel

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/carus_zoologie_1872
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/carus_zoologie_1872/119
Zitationshilfe: Carus, Julius Victor: Geschichte der Zoologie bis auf Johannes Müller und Charles Darwin. München, 1872, S. 108. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_zoologie_1872/119>, abgerufen am 22.12.2024.