Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846.

Bild:
<< vorherige Seite

früher bemerkten) der Gegensatz von Nothwendigkeit und
Freiheit gegeben war. Das Unbewußte hingegen, obwohl
sein Streben rastlos dahin gerichtet sein muß, eine gewisse
Selbstständigkeit des eigenen Organismus zu behaupten,
damit eben auf der Spitze seines Daseins der erkennende
Geist sich aus ihm entwickle, ist von diesem schroffen Gegen¬
satze fern, -- in ihm fluthet das allgemeine Dasein der
Welt noch unmittelbar fort, und in ihm regen sich deßhalb
alle Fasern der Verbindung, durch welche das Einzelne
dem Ganzen überall und immerfort verknüpft ist und ver¬
knüpft sein muß. Dies nun sorgfältig bei Betrachtung
der Organismen und namentlich in dieser psychologischen
Beziehung zu erwägen, ist von der außerordentlichsten Wich¬
tigkeit. Je entfernter nämlich hienach irgend ein Organis¬
mus vom Selbstbewußtsein bleibt, desto geringer wird über¬
haupt seine Individualität ausgeprägt sein, und desto
unmittelbarer muß gedacht werden sein unbewußtes Inbe¬
griffensein in einem allgemeinen Organismus, ja desto
abhängiger von dessen Art sich darzuleben wird er sein,
und desto mehr nur erfühlend, innernd und ahnend alle
Lebensvorgänge dieses Allgemeinen. Eines Theils wird
nun, wenn wir diese Erkenntniß festhalten, sogleich sehr
Vieles klar, was die Geschichte der uns bekannten niedern
Organismen angeht: man versteht, warum Protorganismen,
Pflanzen und niedere Thiere ganz und gar noch den Ver¬
änderungen des tellurischen Lebens anheim gegeben sind,
warum ihre innere Bildung, gleichsam unbewußt voraus¬
schauend, sich immer angemessen den Stimmungen des Leben¬
kreises entwickelt in welchen sie inbegriffen sind, so daß an
ihnen z. B. manche Vorbedeutungen der atmosphärischen
Veränderungen u. dgl. erkennbar werden von denen unser
Bewußtsein schlechterdings an und für sich eine nähere
Kenntniß nicht hat. Andern Theils ergeben sich daraus
aber auch die merkwürdigsten Resultate für die richtige Be¬
urtheilung der psychischen Vorgänge unseres eigenen Orga¬

Carus, Psyche. 6

früher bemerkten) der Gegenſatz von Nothwendigkeit und
Freiheit gegeben war. Das Unbewußte hingegen, obwohl
ſein Streben raſtlos dahin gerichtet ſein muß, eine gewiſſe
Selbſtſtändigkeit des eigenen Organismus zu behaupten,
damit eben auf der Spitze ſeines Daſeins der erkennende
Geiſt ſich aus ihm entwickle, iſt von dieſem ſchroffen Gegen¬
ſatze fern, — in ihm fluthet das allgemeine Daſein der
Welt noch unmittelbar fort, und in ihm regen ſich deßhalb
alle Faſern der Verbindung, durch welche das Einzelne
dem Ganzen überall und immerfort verknüpft iſt und ver¬
knüpft ſein muß. Dies nun ſorgfältig bei Betrachtung
der Organismen und namentlich in dieſer pſychologiſchen
Beziehung zu erwägen, iſt von der außerordentlichſten Wich¬
tigkeit. Je entfernter nämlich hienach irgend ein Organis¬
mus vom Selbſtbewußtſein bleibt, deſto geringer wird über¬
haupt ſeine Individualität ausgeprägt ſein, und deſto
unmittelbarer muß gedacht werden ſein unbewußtes Inbe¬
griffenſein in einem allgemeinen Organismus, ja deſto
abhängiger von deſſen Art ſich darzuleben wird er ſein,
und deſto mehr nur erfühlend, innernd und ahnend alle
Lebensvorgänge dieſes Allgemeinen. Eines Theils wird
nun, wenn wir dieſe Erkenntniß feſthalten, ſogleich ſehr
Vieles klar, was die Geſchichte der uns bekannten niedern
Organismen angeht: man verſteht, warum Protorganismen,
Pflanzen und niedere Thiere ganz und gar noch den Ver¬
änderungen des telluriſchen Lebens anheim gegeben ſind,
warum ihre innere Bildung, gleichſam unbewußt voraus¬
ſchauend, ſich immer angemeſſen den Stimmungen des Leben¬
kreiſes entwickelt in welchen ſie inbegriffen ſind, ſo daß an
ihnen z. B. manche Vorbedeutungen der atmoſphäriſchen
Veränderungen u. dgl. erkennbar werden von denen unſer
Bewußtſein ſchlechterdings an und für ſich eine nähere
Kenntniß nicht hat. Andern Theils ergeben ſich daraus
aber auch die merkwürdigſten Reſultate für die richtige Be¬
urtheilung der pſychiſchen Vorgänge unſeres eigenen Orga¬

Carus, Pſyche. 6
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0097" n="81"/>
früher bemerkten) der Gegen&#x017F;atz von Nothwendigkeit und<lb/>
Freiheit gegeben war. Das Unbewußte hingegen, obwohl<lb/>
&#x017F;ein Streben ra&#x017F;tlos dahin gerichtet &#x017F;ein muß, eine gewi&#x017F;&#x017F;e<lb/>
Selb&#x017F;t&#x017F;tändigkeit des eigenen Organismus zu behaupten,<lb/>
damit eben auf der Spitze &#x017F;eines Da&#x017F;eins der erkennende<lb/>
Gei&#x017F;t &#x017F;ich aus ihm entwickle, i&#x017F;t von die&#x017F;em &#x017F;chroffen Gegen¬<lb/>
&#x017F;atze fern, &#x2014; in ihm fluthet das allgemeine Da&#x017F;ein der<lb/>
Welt noch unmittelbar fort, und in ihm regen &#x017F;ich deßhalb<lb/>
alle Fa&#x017F;ern der Verbindung, durch welche das Einzelne<lb/>
dem Ganzen überall und immerfort verknüpft i&#x017F;t und ver¬<lb/>
knüpft &#x017F;ein muß. Dies nun &#x017F;orgfältig bei Betrachtung<lb/>
der Organismen und namentlich in die&#x017F;er p&#x017F;ychologi&#x017F;chen<lb/>
Beziehung zu erwägen, i&#x017F;t von der außerordentlich&#x017F;ten Wich¬<lb/>
tigkeit. Je entfernter nämlich hienach irgend ein Organis¬<lb/>
mus vom Selb&#x017F;tbewußt&#x017F;ein bleibt, de&#x017F;to geringer wird über¬<lb/>
haupt &#x017F;eine Individualität ausgeprägt &#x017F;ein, und de&#x017F;to<lb/>
unmittelbarer muß gedacht werden &#x017F;ein unbewußtes Inbe¬<lb/>
griffen&#x017F;ein in einem allgemeinen Organismus, ja de&#x017F;to<lb/>
abhängiger von de&#x017F;&#x017F;en Art &#x017F;ich darzuleben wird er &#x017F;ein,<lb/>
und de&#x017F;to mehr nur erfühlend, innernd und ahnend alle<lb/>
Lebensvorgänge die&#x017F;es Allgemeinen. Eines Theils wird<lb/>
nun, wenn wir die&#x017F;e Erkenntniß fe&#x017F;thalten, &#x017F;ogleich &#x017F;ehr<lb/>
Vieles klar, was die Ge&#x017F;chichte der uns bekannten niedern<lb/>
Organismen angeht: man ver&#x017F;teht, warum Protorganismen,<lb/>
Pflanzen und niedere Thiere ganz und gar noch den Ver¬<lb/>
änderungen des telluri&#x017F;chen Lebens anheim gegeben &#x017F;ind,<lb/>
warum ihre innere Bildung, gleich&#x017F;am unbewußt voraus¬<lb/>
&#x017F;chauend, &#x017F;ich immer angeme&#x017F;&#x017F;en den Stimmungen des Leben¬<lb/>
krei&#x017F;es entwickelt in welchen &#x017F;ie inbegriffen &#x017F;ind, &#x017F;o daß an<lb/>
ihnen z. B. manche Vorbedeutungen der atmo&#x017F;phäri&#x017F;chen<lb/>
Veränderungen u. dgl. erkennbar werden von denen <hi rendition="#g">un&#x017F;er</hi><lb/>
Bewußt&#x017F;ein &#x017F;chlechterdings an und für &#x017F;ich eine nähere<lb/>
Kenntniß nicht hat. Andern Theils ergeben &#x017F;ich daraus<lb/>
aber auch die merkwürdig&#x017F;ten Re&#x017F;ultate für die richtige Be¬<lb/>
urtheilung der p&#x017F;ychi&#x017F;chen Vorgänge un&#x017F;eres eigenen Orga¬<lb/>
<fw place="bottom" type="sig"><hi rendition="#g">Carus</hi>, P&#x017F;yche. 6<lb/></fw>
</p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[81/0097] früher bemerkten) der Gegenſatz von Nothwendigkeit und Freiheit gegeben war. Das Unbewußte hingegen, obwohl ſein Streben raſtlos dahin gerichtet ſein muß, eine gewiſſe Selbſtſtändigkeit des eigenen Organismus zu behaupten, damit eben auf der Spitze ſeines Daſeins der erkennende Geiſt ſich aus ihm entwickle, iſt von dieſem ſchroffen Gegen¬ ſatze fern, — in ihm fluthet das allgemeine Daſein der Welt noch unmittelbar fort, und in ihm regen ſich deßhalb alle Faſern der Verbindung, durch welche das Einzelne dem Ganzen überall und immerfort verknüpft iſt und ver¬ knüpft ſein muß. Dies nun ſorgfältig bei Betrachtung der Organismen und namentlich in dieſer pſychologiſchen Beziehung zu erwägen, iſt von der außerordentlichſten Wich¬ tigkeit. Je entfernter nämlich hienach irgend ein Organis¬ mus vom Selbſtbewußtſein bleibt, deſto geringer wird über¬ haupt ſeine Individualität ausgeprägt ſein, und deſto unmittelbarer muß gedacht werden ſein unbewußtes Inbe¬ griffenſein in einem allgemeinen Organismus, ja deſto abhängiger von deſſen Art ſich darzuleben wird er ſein, und deſto mehr nur erfühlend, innernd und ahnend alle Lebensvorgänge dieſes Allgemeinen. Eines Theils wird nun, wenn wir dieſe Erkenntniß feſthalten, ſogleich ſehr Vieles klar, was die Geſchichte der uns bekannten niedern Organismen angeht: man verſteht, warum Protorganismen, Pflanzen und niedere Thiere ganz und gar noch den Ver¬ änderungen des telluriſchen Lebens anheim gegeben ſind, warum ihre innere Bildung, gleichſam unbewußt voraus¬ ſchauend, ſich immer angemeſſen den Stimmungen des Leben¬ kreiſes entwickelt in welchen ſie inbegriffen ſind, ſo daß an ihnen z. B. manche Vorbedeutungen der atmoſphäriſchen Veränderungen u. dgl. erkennbar werden von denen unſer Bewußtſein ſchlechterdings an und für ſich eine nähere Kenntniß nicht hat. Andern Theils ergeben ſich daraus aber auch die merkwürdigſten Reſultate für die richtige Be¬ urtheilung der pſychiſchen Vorgänge unſeres eigenen Orga¬ Carus, Pſyche. 6

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/carus_psyche_1846
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/carus_psyche_1846/97
Zitationshilfe: Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846, S. 81. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_psyche_1846/97>, abgerufen am 23.11.2024.