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Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846.

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wenn jedenfalls schon das künstliche Verdrücken des Schädels
der Neugebornen bei amerikanischen Wilden der Entwicklung
eines höhern Bewußtseins ungünstig ist, so dürfte mit Be¬
stimmtheit behauptet werden, daß eine allseitige gewaltsame
Beschränkung des Wachsthums des Hirns (etwa nach Art
der Beschränkung des Wachsthums der Füße bei den Chinesen)
allemal und eben so nothwendig Idiotismus herbeiführen
müßte, als Stumpfsinn, Blödsinn und zuletzt Schwinden
des Bewußtseins entsteht, wenn in spätern Jahren Hirn¬
erweichung oder Hirnwassersucht sich entwickelt hat.

Erwägen wir jetzt alles dies, so bleibt es merkwürdig
genug, daß, wenn man bei der Manie sowohl, als beim
Idiotismus, die Thatsache nicht läugnen konnte, daß bei
diesen beiden Endpunkten der Reihe geisteskranker Zustände
die Wurzel des Uebels im Unbewußten, oder, wie man ge¬
wöhnlich zu sagen pflegt, im Leiblichen liegt, man bei den
andern in der Mitte stehenden Leiden, d. i. in den ver¬
schiedenen Formen des Wahnsinns, hierüber so schwer zu
einer festen Ansicht gelangen konnte. Das Verlassen eines
streng genetischen Weges ist auch hier die einzige Ursache
so vieler Irrthümer gewesen.

Allerdings aber ist es auch wirklich eine seltsame und
den Beobachter selbst leicht irre führende Erscheinung die
einer in Wahnsinn befangenen Seele! -- Alle Vorgänge
des unbewußten Lebens scheinen zuweilen für oberflächliche
Betrachtung in vollkommener Ordnung: der Mensch athmet,
nährt sich und zerstört sich, wie ein Gesunder, sein Puls
schlägt den richtigen Takt, und eben so scheinen auch ganze
Provinzen des geistigen Reichs in vollkommen gesetzmäßigem
Verhalten; das Denken und Fühlen erscheint nach manchen
Richtungen hin ebenfalls ungestört, der Geist erkennt, schließt,
urtheilt, er entwirft oft mit vielem Scharfsinn bestimmte
Plane und kann sogar mit Consequenz für deren Ausfüh¬
rung in der That sich bewähren; plötzlich aber, nach andern
Richtungen hin, tritt nun mit einem Male ein ganz Fremd¬

wenn jedenfalls ſchon das künſtliche Verdrücken des Schädels
der Neugebornen bei amerikaniſchen Wilden der Entwicklung
eines höhern Bewußtſeins ungünſtig iſt, ſo dürfte mit Be¬
ſtimmtheit behauptet werden, daß eine allſeitige gewaltſame
Beſchränkung des Wachsthums des Hirns (etwa nach Art
der Beſchränkung des Wachsthums der Füße bei den Chineſen)
allemal und eben ſo nothwendig Idiotismus herbeiführen
müßte, als Stumpfſinn, Blödſinn und zuletzt Schwinden
des Bewußtſeins entſteht, wenn in ſpätern Jahren Hirn¬
erweichung oder Hirnwaſſerſucht ſich entwickelt hat.

Erwägen wir jetzt alles dies, ſo bleibt es merkwürdig
genug, daß, wenn man bei der Manie ſowohl, als beim
Idiotismus, die Thatſache nicht läugnen konnte, daß bei
dieſen beiden Endpunkten der Reihe geiſteskranker Zuſtände
die Wurzel des Uebels im Unbewußten, oder, wie man ge¬
wöhnlich zu ſagen pflegt, im Leiblichen liegt, man bei den
andern in der Mitte ſtehenden Leiden, d. i. in den ver¬
ſchiedenen Formen des Wahnſinns, hierüber ſo ſchwer zu
einer feſten Anſicht gelangen konnte. Das Verlaſſen eines
ſtreng genetiſchen Weges iſt auch hier die einzige Urſache
ſo vieler Irrthümer geweſen.

Allerdings aber iſt es auch wirklich eine ſeltſame und
den Beobachter ſelbſt leicht irre führende Erſcheinung die
einer in Wahnſinn befangenen Seele! — Alle Vorgänge
des unbewußten Lebens ſcheinen zuweilen für oberflächliche
Betrachtung in vollkommener Ordnung: der Menſch athmet,
nährt ſich und zerſtört ſich, wie ein Geſunder, ſein Puls
ſchlägt den richtigen Takt, und eben ſo ſcheinen auch ganze
Provinzen des geiſtigen Reichs in vollkommen geſetzmäßigem
Verhalten; das Denken und Fühlen erſcheint nach manchen
Richtungen hin ebenfalls ungeſtört, der Geiſt erkennt, ſchließt,
urtheilt, er entwirft oft mit vielem Scharfſinn beſtimmte
Plane und kann ſogar mit Conſequenz für deren Ausfüh¬
rung in der That ſich bewähren; plötzlich aber, nach andern
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[445/0461] wenn jedenfalls ſchon das künſtliche Verdrücken des Schädels der Neugebornen bei amerikaniſchen Wilden der Entwicklung eines höhern Bewußtſeins ungünſtig iſt, ſo dürfte mit Be¬ ſtimmtheit behauptet werden, daß eine allſeitige gewaltſame Beſchränkung des Wachsthums des Hirns (etwa nach Art der Beſchränkung des Wachsthums der Füße bei den Chineſen) allemal und eben ſo nothwendig Idiotismus herbeiführen müßte, als Stumpfſinn, Blödſinn und zuletzt Schwinden des Bewußtſeins entſteht, wenn in ſpätern Jahren Hirn¬ erweichung oder Hirnwaſſerſucht ſich entwickelt hat. Erwägen wir jetzt alles dies, ſo bleibt es merkwürdig genug, daß, wenn man bei der Manie ſowohl, als beim Idiotismus, die Thatſache nicht läugnen konnte, daß bei dieſen beiden Endpunkten der Reihe geiſteskranker Zuſtände die Wurzel des Uebels im Unbewußten, oder, wie man ge¬ wöhnlich zu ſagen pflegt, im Leiblichen liegt, man bei den andern in der Mitte ſtehenden Leiden, d. i. in den ver¬ ſchiedenen Formen des Wahnſinns, hierüber ſo ſchwer zu einer feſten Anſicht gelangen konnte. Das Verlaſſen eines ſtreng genetiſchen Weges iſt auch hier die einzige Urſache ſo vieler Irrthümer geweſen. Allerdings aber iſt es auch wirklich eine ſeltſame und den Beobachter ſelbſt leicht irre führende Erſcheinung die einer in Wahnſinn befangenen Seele! — Alle Vorgänge des unbewußten Lebens ſcheinen zuweilen für oberflächliche Betrachtung in vollkommener Ordnung: der Menſch athmet, nährt ſich und zerſtört ſich, wie ein Geſunder, ſein Puls ſchlägt den richtigen Takt, und eben ſo ſcheinen auch ganze Provinzen des geiſtigen Reichs in vollkommen geſetzmäßigem Verhalten; das Denken und Fühlen erſcheint nach manchen Richtungen hin ebenfalls ungeſtört, der Geiſt erkennt, ſchließt, urtheilt, er entwirft oft mit vielem Scharfſinn beſtimmte Plane und kann ſogar mit Conſequenz für deren Ausfüh¬ rung in der That ſich bewähren; plötzlich aber, nach andern Richtungen hin, tritt nun mit einem Male ein ganz Fremd¬

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Zitationshilfe: Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846, S. 445. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_psyche_1846/461>, abgerufen am 24.11.2024.