nach That und Gefühl und Gedanken gereift und erstarkt sein sollte, noch schwach und in Irrthum, in falsches Ge¬ fühl und ungesundes Thun versunken ist, da werden Krank¬ heiten, welche im Unbewußten sich entwickeln, nicht nur allemal mit größerer Gewalt auf das Bewußtsein hinüber¬ wirken und wahre Krankheitserscheinungen am Geiste erzeu¬ gen, sondern an und für sich werden auch überhaupt Krank¬ heiten leichter entstehen, weil diejenige Macht, welche das Unbewußte zu behüten bestimmt ist, nur unvollkommen und geschwächt sich darstellt.
Ehe wir jedoch jenes zweite Reich der Seelenkrank¬ heiten, welches die am bewußten Geiste sich offenbarenden umfaßt, noch so weit im Einzelnen erwägen, als es für einen Ueberblick der gesammten Entwicklungsgeschichte der Seele hier nöthig ist, bleibt noch übrig theils aufmerksam darauf zu machen, in welcher Beziehung gewisse sehr erhobene und gesunde Erscheinungen am Geiste mit gewissen wirk¬ lichen Krankheitserscheinungen sich sehr nahe berühren, theils noch insbesondere anzudeuten, von welchen ursprünglich bloß aufgeregten Zuständen des Geistes am leichtesten der Uebergang sich machen könne zu wirklichen geistigen Krank¬ heitserscheinungen. In Beziehung auf das erstere ist es sehr merkwürdig, daß gewisse große selbstständige Richtungen des gesunden Geistes vorkommen, welche, eben weil auch sie die Kraft des Bewußtseins in einzelnen Richtungen im höchsten Grade concentriren, öfters Veranlassung gegeben haben, daß zwischen manchem erhabensten Wirken und Schauen des Geistes und manchen entschiedenen Formen des Wahnsinns eine sehr große Annäherung längst, und schon seit Plato, anerkannt wurde. Gewiß ist die Gränze solcher Zustände schwerer zu bestimmen als es auf den ersten Blick scheint, denn weder die in sich richtige Folge, noch auch die Höhe und Schönheit der Gedanken und Gefühle, können hier allein allemal ausreichende Unterscheidungs¬ merkmale darbieten. Zwischen dem in religiösen Wahnsinn
nach That und Gefühl und Gedanken gereift und erſtarkt ſein ſollte, noch ſchwach und in Irrthum, in falſches Ge¬ fühl und ungeſundes Thun verſunken iſt, da werden Krank¬ heiten, welche im Unbewußten ſich entwickeln, nicht nur allemal mit größerer Gewalt auf das Bewußtſein hinüber¬ wirken und wahre Krankheitserſcheinungen am Geiſte erzeu¬ gen, ſondern an und für ſich werden auch überhaupt Krank¬ heiten leichter entſtehen, weil diejenige Macht, welche das Unbewußte zu behüten beſtimmt iſt, nur unvollkommen und geſchwächt ſich darſtellt.
Ehe wir jedoch jenes zweite Reich der Seelenkrank¬ heiten, welches die am bewußten Geiſte ſich offenbarenden umfaßt, noch ſo weit im Einzelnen erwägen, als es für einen Ueberblick der geſammten Entwicklungsgeſchichte der Seele hier nöthig iſt, bleibt noch übrig theils aufmerkſam darauf zu machen, in welcher Beziehung gewiſſe ſehr erhobene und geſunde Erſcheinungen am Geiſte mit gewiſſen wirk¬ lichen Krankheitserſcheinungen ſich ſehr nahe berühren, theils noch insbeſondere anzudeuten, von welchen urſprünglich bloß aufgeregten Zuſtänden des Geiſtes am leichteſten der Uebergang ſich machen könne zu wirklichen geiſtigen Krank¬ heitserſcheinungen. In Beziehung auf das erſtere iſt es ſehr merkwürdig, daß gewiſſe große ſelbſtſtändige Richtungen des geſunden Geiſtes vorkommen, welche, eben weil auch ſie die Kraft des Bewußtſeins in einzelnen Richtungen im höchſten Grade concentriren, öfters Veranlaſſung gegeben haben, daß zwiſchen manchem erhabenſten Wirken und Schauen des Geiſtes und manchen entſchiedenen Formen des Wahnſinns eine ſehr große Annäherung längſt, und ſchon ſeit Plato, anerkannt wurde. Gewiß iſt die Gränze ſolcher Zuſtände ſchwerer zu beſtimmen als es auf den erſten Blick ſcheint, denn weder die in ſich richtige Folge, noch auch die Höhe und Schönheit der Gedanken und Gefühle, können hier allein allemal ausreichende Unterſcheidungs¬ merkmale darbieten. Zwiſchen dem in religiöſen Wahnſinn
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0455"n="439"/>
nach That und Gefühl und Gedanken gereift und erſtarkt<lb/>ſein ſollte, noch ſchwach und in Irrthum, in falſches Ge¬<lb/>
fühl und ungeſundes Thun verſunken iſt, da werden Krank¬<lb/>
heiten, welche im Unbewußten ſich entwickeln, nicht nur<lb/>
allemal mit größerer Gewalt auf das Bewußtſein hinüber¬<lb/>
wirken und wahre Krankheitserſcheinungen am Geiſte erzeu¬<lb/>
gen, ſondern an und für ſich werden auch überhaupt Krank¬<lb/>
heiten leichter entſtehen, weil diejenige Macht, welche das<lb/>
Unbewußte zu behüten beſtimmt iſt, nur unvollkommen und<lb/>
geſchwächt ſich darſtellt.</p><lb/><p>Ehe wir jedoch jenes zweite Reich der Seelenkrank¬<lb/>
heiten, welches die am bewußten Geiſte ſich offenbarenden<lb/>
umfaßt, noch ſo weit im Einzelnen erwägen, als es für<lb/>
einen Ueberblick der geſammten Entwicklungsgeſchichte der<lb/>
Seele hier nöthig iſt, bleibt noch übrig theils aufmerkſam<lb/>
darauf zu machen, in welcher Beziehung gewiſſe ſehr erhobene<lb/>
und geſunde Erſcheinungen am Geiſte mit gewiſſen wirk¬<lb/>
lichen Krankheitserſcheinungen ſich ſehr nahe berühren, theils<lb/>
noch insbeſondere anzudeuten, von welchen urſprünglich<lb/>
bloß aufgeregten Zuſtänden des Geiſtes am leichteſten der<lb/>
Uebergang ſich machen könne zu wirklichen geiſtigen Krank¬<lb/>
heitserſcheinungen. In Beziehung auf das erſtere iſt es<lb/>ſehr merkwürdig, daß gewiſſe große ſelbſtſtändige Richtungen<lb/>
des geſunden Geiſtes vorkommen, welche, eben weil auch<lb/>ſie die Kraft des Bewußtſeins in einzelnen Richtungen im<lb/>
höchſten Grade concentriren, öfters Veranlaſſung gegeben<lb/>
haben, daß zwiſchen manchem erhabenſten Wirken und<lb/>
Schauen des Geiſtes und manchen entſchiedenen Formen<lb/>
des Wahnſinns eine ſehr große Annäherung längſt, und<lb/>ſchon ſeit <hirendition="#g">Plato</hi>, anerkannt wurde. Gewiß iſt die Gränze<lb/>ſolcher Zuſtände ſchwerer zu beſtimmen als es auf den erſten<lb/>
Blick ſcheint, denn weder die in ſich richtige Folge, noch<lb/>
auch die Höhe und Schönheit der Gedanken und Gefühle,<lb/>
können hier allein allemal ausreichende Unterſcheidungs¬<lb/>
merkmale darbieten. Zwiſchen dem in religiöſen Wahnſinn<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[439/0455]
nach That und Gefühl und Gedanken gereift und erſtarkt
ſein ſollte, noch ſchwach und in Irrthum, in falſches Ge¬
fühl und ungeſundes Thun verſunken iſt, da werden Krank¬
heiten, welche im Unbewußten ſich entwickeln, nicht nur
allemal mit größerer Gewalt auf das Bewußtſein hinüber¬
wirken und wahre Krankheitserſcheinungen am Geiſte erzeu¬
gen, ſondern an und für ſich werden auch überhaupt Krank¬
heiten leichter entſtehen, weil diejenige Macht, welche das
Unbewußte zu behüten beſtimmt iſt, nur unvollkommen und
geſchwächt ſich darſtellt.
Ehe wir jedoch jenes zweite Reich der Seelenkrank¬
heiten, welches die am bewußten Geiſte ſich offenbarenden
umfaßt, noch ſo weit im Einzelnen erwägen, als es für
einen Ueberblick der geſammten Entwicklungsgeſchichte der
Seele hier nöthig iſt, bleibt noch übrig theils aufmerkſam
darauf zu machen, in welcher Beziehung gewiſſe ſehr erhobene
und geſunde Erſcheinungen am Geiſte mit gewiſſen wirk¬
lichen Krankheitserſcheinungen ſich ſehr nahe berühren, theils
noch insbeſondere anzudeuten, von welchen urſprünglich
bloß aufgeregten Zuſtänden des Geiſtes am leichteſten der
Uebergang ſich machen könne zu wirklichen geiſtigen Krank¬
heitserſcheinungen. In Beziehung auf das erſtere iſt es
ſehr merkwürdig, daß gewiſſe große ſelbſtſtändige Richtungen
des geſunden Geiſtes vorkommen, welche, eben weil auch
ſie die Kraft des Bewußtſeins in einzelnen Richtungen im
höchſten Grade concentriren, öfters Veranlaſſung gegeben
haben, daß zwiſchen manchem erhabenſten Wirken und
Schauen des Geiſtes und manchen entſchiedenen Formen
des Wahnſinns eine ſehr große Annäherung längſt, und
ſchon ſeit Plato, anerkannt wurde. Gewiß iſt die Gränze
ſolcher Zuſtände ſchwerer zu beſtimmen als es auf den erſten
Blick ſcheint, denn weder die in ſich richtige Folge, noch
auch die Höhe und Schönheit der Gedanken und Gefühle,
können hier allein allemal ausreichende Unterſcheidungs¬
merkmale darbieten. Zwiſchen dem in religiöſen Wahnſinn
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846, S. 439. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_psyche_1846/455>, abgerufen am 23.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.