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Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846.

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und für jeden einzelnen Menschen ein besonderes Verhältniß
der Mannichfaltigkeit seiner Erscheinung darstellt, würden
die verschiedenen Arten vollkommener Gesundheit doch nie
unter sich ganz gleich sein, und bei der stäten Umbildung
des Organismus, welche er in der Entwicklung des Lebens
erfährt, ist selbst in einem und demselben Individuum nie
dieser Zustand, wenn er überhaupt mehrfältig und in
längeren Zeiträumen vorkommt, durchaus und immerfort
derselbe. Dieses ganz vollkommen geregelt sein also, dieses
ganz und durchaus Natürliche, kurz dieses Ideal einer
Gesundheit ist überhaupt, wie alles Vollkommene im Leben,
wenn es ja hie und da annähernd vorkommt, eine große
Seltenheit; es findet sich vielmehr auch in dieser Beziehung
die menschliche Existenz an eine fortwährende und höchst
mannichfaltige Schwankung gewiesen, eine Schwankung,
welche sich theils in Unvollkommenheiten bald der Gesund¬
heit des Bewußten, bald der des unbewußten Seelenlebens
bethätigen, bald in gewissem nicht gleichartigem Stande
der Gesundheit beider Sphären gegeneinander zu erkennen
geben wird. Ein vollkommenes Gleichgewicht zwischen
diesen beiden Sphären gehört überhaupt zu dem fast nie
Vorkommenden, sondern wir finden fast immer bald die
eine, bald die andere vorschlagend. Beobachtet man nun
dergleichen Fälle genauer, so kann man dahin kommen
manch wichtiges Gesetz in dieser Beziehung aufzustellen.
So ist zuerst unverkennbar, daß für das Wachsthum der
eigentlichen innern Monas der Seele, oder des An-sich-
seins der Idee, in den frühesten Perioden der Lebensent¬
wicklung ein gewisses Vorwalten der Gesundheit
des Unbewußten
eben so wichtig und fördernd sei, als es
in den spätern Perioden ein gewisses Vorwalten der Gesund¬
heit des bewußten Geistes wird. Gerade weil das Unbe¬
wußte eben das Primitive darstellt, auf dessen Boden gleich¬
sam erst die höhere Blüthe des Geistes sich entfalten soll, und
gerade weil diese letztere nur dann kräftig und bedeutend

und für jeden einzelnen Menſchen ein beſonderes Verhältniß
der Mannichfaltigkeit ſeiner Erſcheinung darſtellt, würden
die verſchiedenen Arten vollkommener Geſundheit doch nie
unter ſich ganz gleich ſein, und bei der ſtäten Umbildung
des Organismus, welche er in der Entwicklung des Lebens
erfährt, iſt ſelbſt in einem und demſelben Individuum nie
dieſer Zuſtand, wenn er überhaupt mehrfältig und in
längeren Zeiträumen vorkommt, durchaus und immerfort
derſelbe. Dieſes ganz vollkommen geregelt ſein alſo, dieſes
ganz und durchaus Natürliche, kurz dieſes Ideal einer
Geſundheit iſt überhaupt, wie alles Vollkommene im Leben,
wenn es ja hie und da annähernd vorkommt, eine große
Seltenheit; es findet ſich vielmehr auch in dieſer Beziehung
die menſchliche Exiſtenz an eine fortwährende und höchſt
mannichfaltige Schwankung gewieſen, eine Schwankung,
welche ſich theils in Unvollkommenheiten bald der Geſund¬
heit des Bewußten, bald der des unbewußten Seelenlebens
bethätigen, bald in gewiſſem nicht gleichartigem Stande
der Geſundheit beider Sphären gegeneinander zu erkennen
geben wird. Ein vollkommenes Gleichgewicht zwiſchen
dieſen beiden Sphären gehört überhaupt zu dem faſt nie
Vorkommenden, ſondern wir finden faſt immer bald die
eine, bald die andere vorſchlagend. Beobachtet man nun
dergleichen Fälle genauer, ſo kann man dahin kommen
manch wichtiges Geſetz in dieſer Beziehung aufzuſtellen.
So iſt zuerſt unverkennbar, daß für das Wachsthum der
eigentlichen innern Monas der Seele, oder des An-ſich-
ſeins der Idee, in den früheſten Perioden der Lebensent¬
wicklung ein gewiſſes Vorwalten der Geſundheit
des Unbewußten
eben ſo wichtig und fördernd ſei, als es
in den ſpätern Perioden ein gewiſſes Vorwalten der Geſund¬
heit des bewußten Geiſtes wird. Gerade weil das Unbe¬
wußte eben das Primitive darſtellt, auf deſſen Boden gleich¬
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[427/0443] und für jeden einzelnen Menſchen ein beſonderes Verhältniß der Mannichfaltigkeit ſeiner Erſcheinung darſtellt, würden die verſchiedenen Arten vollkommener Geſundheit doch nie unter ſich ganz gleich ſein, und bei der ſtäten Umbildung des Organismus, welche er in der Entwicklung des Lebens erfährt, iſt ſelbſt in einem und demſelben Individuum nie dieſer Zuſtand, wenn er überhaupt mehrfältig und in längeren Zeiträumen vorkommt, durchaus und immerfort derſelbe. Dieſes ganz vollkommen geregelt ſein alſo, dieſes ganz und durchaus Natürliche, kurz dieſes Ideal einer Geſundheit iſt überhaupt, wie alles Vollkommene im Leben, wenn es ja hie und da annähernd vorkommt, eine große Seltenheit; es findet ſich vielmehr auch in dieſer Beziehung die menſchliche Exiſtenz an eine fortwährende und höchſt mannichfaltige Schwankung gewieſen, eine Schwankung, welche ſich theils in Unvollkommenheiten bald der Geſund¬ heit des Bewußten, bald der des unbewußten Seelenlebens bethätigen, bald in gewiſſem nicht gleichartigem Stande der Geſundheit beider Sphären gegeneinander zu erkennen geben wird. Ein vollkommenes Gleichgewicht zwiſchen dieſen beiden Sphären gehört überhaupt zu dem faſt nie Vorkommenden, ſondern wir finden faſt immer bald die eine, bald die andere vorſchlagend. Beobachtet man nun dergleichen Fälle genauer, ſo kann man dahin kommen manch wichtiges Geſetz in dieſer Beziehung aufzuſtellen. So iſt zuerſt unverkennbar, daß für das Wachsthum der eigentlichen innern Monas der Seele, oder des An-ſich- ſeins der Idee, in den früheſten Perioden der Lebensent¬ wicklung ein gewiſſes Vorwalten der Geſundheit des Unbewußten eben ſo wichtig und fördernd ſei, als es in den ſpätern Perioden ein gewiſſes Vorwalten der Geſund¬ heit des bewußten Geiſtes wird. Gerade weil das Unbe¬ wußte eben das Primitive darſtellt, auf deſſen Boden gleich¬ ſam erſt die höhere Blüthe des Geiſtes ſich entfalten ſoll, und gerade weil dieſe letztere nur dann kräftig und bedeutend

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Zitationshilfe: Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846, S. 427. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_psyche_1846/443>, abgerufen am 22.11.2024.