Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846.

Bild:
<< vorherige Seite

Naturen wohl eine besondere Sensibilität hervor, welche es
ihnen merkwürdig erschwert, überhaupt die nächste Nähe
anderer Individuen zu ertragen, außer gerade nur dessen,
in welchem sie allein eine vollkommene Gemäßheit dem eige¬
nen Wesen empfinden und mit welchem ein entschiedener
Zug der Sympathie sie verbindet. Die Nähe dieses Letztern
wird dann freilich auch um so mächtiger und erfrischend
belebender auf sie wirken.

Es begreift sich übrigens leicht, daß, was hier noch
von Ansteckung und magnetischer Heilwirkung zu sagen ist,
eigentlich nur als besondere Modification dessen aufgeführt
werden kann, was als Sympathie eben besprochen worden
ist. Beides, Ansteckung sowohl, als heilende Lebensein¬
wirkung, kann deßhalb nur Statt finden, wenn eine ge¬
wisse Sympathie vorhanden ist. Wo gar kein Verhältniß
dieser Art besteht, wird die Heilwirkung schon gar nicht
angestrebt werden, aber auch die Ansteckung wird nicht Statt
finden. So ist z. B. kein Fall bekannt, daß die Epidemien
unter den amerikanischen Wilden auf Europäer übergingen.
Wie daher einerseits zuweilen bei der leisesten Berührung,
ja bloß durch Wirkung in die Ferne, eine Krankheit mit¬
getheilt wird, so können in andern Fällen selbst die heftig¬
sten und leichtest ansteckenden Krankheiten -- wie die Pest --
wenn jenes Verhältniß mangelt, bei noch so naher Be¬
rührung ohne Ansteckung bleiben.

Hinzugefügt muß indeß bei Erwähnung dieser Fälle

So mußte ich an diese Vorgänge denken, indem ich mir aus der frühesten
Lebensgeschichte eines bekannten außerordentlichen Talents für Zahlen¬
rechnung erzählen ließ. Dieser Mann, bei welchem die ungeheuere innere
Praxis des Rechnens alle andern und auch die höhern Geistesrichtungen
absorbirt hat, so daß eigentlich der höhere philosophische und poetische
Mensch ganz in dem Rechner untergegangen ist, erfuhr als kleiner Knabe,
wie ihm in der Schule die ersten Ziffern vorgeschrieben wurden, ein
wahres Entsetzen davor, so daß er nicht zur Schule kam, und daß er
später erst, durch Schläge zum Schulbesuch und Rechnen angehalten,
ganz zur Rechnenmaschine wurde. Dieses erste Entsetzen vor Etwas, das
später seine höhere Richtung völlig absorbirt hat, mußte mir sogleich be¬
deutungsvoll im obigen Sinne erscheinen.

Naturen wohl eine beſondere Senſibilität hervor, welche es
ihnen merkwürdig erſchwert, überhaupt die nächſte Nähe
anderer Individuen zu ertragen, außer gerade nur deſſen,
in welchem ſie allein eine vollkommene Gemäßheit dem eige¬
nen Weſen empfinden und mit welchem ein entſchiedener
Zug der Sympathie ſie verbindet. Die Nähe dieſes Letztern
wird dann freilich auch um ſo mächtiger und erfriſchend
belebender auf ſie wirken.

Es begreift ſich übrigens leicht, daß, was hier noch
von Anſteckung und magnetiſcher Heilwirkung zu ſagen iſt,
eigentlich nur als beſondere Modification deſſen aufgeführt
werden kann, was als Sympathie eben beſprochen worden
iſt. Beides, Anſteckung ſowohl, als heilende Lebensein¬
wirkung, kann deßhalb nur Statt finden, wenn eine ge¬
wiſſe Sympathie vorhanden iſt. Wo gar kein Verhältniß
dieſer Art beſteht, wird die Heilwirkung ſchon gar nicht
angeſtrebt werden, aber auch die Anſteckung wird nicht Statt
finden. So iſt z. B. kein Fall bekannt, daß die Epidemien
unter den amerikaniſchen Wilden auf Europäer übergingen.
Wie daher einerſeits zuweilen bei der leiſeſten Berührung,
ja bloß durch Wirkung in die Ferne, eine Krankheit mit¬
getheilt wird, ſo können in andern Fällen ſelbſt die heftig¬
ſten und leichteſt anſteckenden Krankheiten — wie die Peſt —
wenn jenes Verhältniß mangelt, bei noch ſo naher Be¬
rührung ohne Anſteckung bleiben.

Hinzugefügt muß indeß bei Erwähnung dieſer Fälle

So mußte ich an dieſe Vorgänge denken, indem ich mir aus der früheſten
Lebensgeſchichte eines bekannten außerordentlichen Talents für Zahlen¬
rechnung erzählen ließ. Dieſer Mann, bei welchem die ungeheuere innere
Praxis des Rechnens alle andern und auch die höhern Geiſtesrichtungen
abſorbirt hat, ſo daß eigentlich der höhere philoſophiſche und poetiſche
Menſch ganz in dem Rechner untergegangen iſt, erfuhr als kleiner Knabe,
wie ihm in der Schule die erſten Ziffern vorgeſchrieben wurden, ein
wahres Entſetzen davor, ſo daß er nicht zur Schule kam, und daß er
ſpäter erſt, durch Schläge zum Schulbeſuch und Rechnen angehalten,
ganz zur Rechnenmaſchine wurde. Dieſes erſte Entſetzen vor Etwas, das
ſpäter ſeine höhere Richtung völlig abſorbirt hat, mußte mir ſogleich be¬
deutungsvoll im obigen Sinne erſcheinen.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0399" n="383"/>
Naturen wohl eine be&#x017F;ondere Sen&#x017F;ibilität hervor, welche es<lb/>
ihnen merkwürdig er&#x017F;chwert, überhaupt die näch&#x017F;te Nähe<lb/>
anderer Individuen zu ertragen, außer gerade nur de&#x017F;&#x017F;en,<lb/>
in welchem &#x017F;ie allein eine vollkommene Gemäßheit dem eige¬<lb/>
nen We&#x017F;en empfinden und mit welchem ein ent&#x017F;chiedener<lb/>
Zug der Sympathie &#x017F;ie verbindet. Die Nähe die&#x017F;es Letztern<lb/>
wird dann freilich auch um &#x017F;o mächtiger und erfri&#x017F;chend<lb/>
belebender auf &#x017F;ie wirken.</p><lb/>
          <p>Es begreift &#x017F;ich übrigens leicht, daß, was hier noch<lb/>
von An&#x017F;teckung und magneti&#x017F;cher Heilwirkung zu &#x017F;agen i&#x017F;t,<lb/>
eigentlich nur als be&#x017F;ondere Modification de&#x017F;&#x017F;en aufgeführt<lb/>
werden kann, was als Sympathie eben be&#x017F;prochen worden<lb/>
i&#x017F;t. Beides, An&#x017F;teckung &#x017F;owohl, als heilende Lebensein¬<lb/>
wirkung, kann deßhalb nur Statt finden, wenn eine ge¬<lb/>
wi&#x017F;&#x017F;e Sympathie vorhanden i&#x017F;t. Wo gar kein Verhältniß<lb/>
die&#x017F;er Art be&#x017F;teht, wird die Heilwirkung &#x017F;chon gar nicht<lb/>
ange&#x017F;trebt werden, aber auch die An&#x017F;teckung wird nicht Statt<lb/>
finden. So i&#x017F;t z. B. kein Fall bekannt, daß die Epidemien<lb/>
unter den amerikani&#x017F;chen Wilden auf Europäer übergingen.<lb/>
Wie daher einer&#x017F;eits zuweilen bei der lei&#x017F;e&#x017F;ten Berührung,<lb/>
ja bloß durch Wirkung in die Ferne, eine Krankheit mit¬<lb/>
getheilt wird, &#x017F;o können in andern Fällen &#x017F;elb&#x017F;t die heftig¬<lb/>
&#x017F;ten und leichte&#x017F;t an&#x017F;teckenden Krankheiten &#x2014; wie die Pe&#x017F;t &#x2014;<lb/>
wenn jenes Verhältniß mangelt, bei noch &#x017F;o naher Be¬<lb/>
rührung ohne An&#x017F;teckung bleiben.</p><lb/>
          <p>Hinzugefügt muß indeß bei Erwähnung die&#x017F;er Fälle<lb/><note xml:id="note-0399" prev="#note-0398" place="foot" n="1">So mußte ich an die&#x017F;e Vorgänge denken, indem ich mir aus der frühe&#x017F;ten<lb/>
Lebensge&#x017F;chichte eines bekannten außerordentlichen Talents für Zahlen¬<lb/>
rechnung erzählen ließ. Die&#x017F;er Mann, bei welchem die ungeheuere innere<lb/>
Praxis des Rechnens alle andern und auch die höhern Gei&#x017F;tesrichtungen<lb/>
ab&#x017F;orbirt hat, &#x017F;o daß eigentlich der höhere philo&#x017F;ophi&#x017F;che und poeti&#x017F;che<lb/>
Men&#x017F;ch ganz in dem Rechner untergegangen i&#x017F;t, erfuhr als kleiner Knabe,<lb/>
wie ihm in der Schule die er&#x017F;ten Ziffern vorge&#x017F;chrieben wurden, ein<lb/>
wahres Ent&#x017F;etzen davor, &#x017F;o daß er nicht zur Schule kam, und daß er<lb/>
&#x017F;päter er&#x017F;t, durch Schläge zum Schulbe&#x017F;uch und Rechnen angehalten,<lb/>
ganz zur Rechnenma&#x017F;chine wurde. Die&#x017F;es er&#x017F;te Ent&#x017F;etzen vor Etwas, das<lb/>
&#x017F;päter &#x017F;eine höhere Richtung völlig ab&#x017F;orbirt hat, mußte mir &#x017F;ogleich be¬<lb/>
deutungsvoll im obigen Sinne er&#x017F;cheinen.</note>
</p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[383/0399] Naturen wohl eine beſondere Senſibilität hervor, welche es ihnen merkwürdig erſchwert, überhaupt die nächſte Nähe anderer Individuen zu ertragen, außer gerade nur deſſen, in welchem ſie allein eine vollkommene Gemäßheit dem eige¬ nen Weſen empfinden und mit welchem ein entſchiedener Zug der Sympathie ſie verbindet. Die Nähe dieſes Letztern wird dann freilich auch um ſo mächtiger und erfriſchend belebender auf ſie wirken. Es begreift ſich übrigens leicht, daß, was hier noch von Anſteckung und magnetiſcher Heilwirkung zu ſagen iſt, eigentlich nur als beſondere Modification deſſen aufgeführt werden kann, was als Sympathie eben beſprochen worden iſt. Beides, Anſteckung ſowohl, als heilende Lebensein¬ wirkung, kann deßhalb nur Statt finden, wenn eine ge¬ wiſſe Sympathie vorhanden iſt. Wo gar kein Verhältniß dieſer Art beſteht, wird die Heilwirkung ſchon gar nicht angeſtrebt werden, aber auch die Anſteckung wird nicht Statt finden. So iſt z. B. kein Fall bekannt, daß die Epidemien unter den amerikaniſchen Wilden auf Europäer übergingen. Wie daher einerſeits zuweilen bei der leiſeſten Berührung, ja bloß durch Wirkung in die Ferne, eine Krankheit mit¬ getheilt wird, ſo können in andern Fällen ſelbſt die heftig¬ ſten und leichteſt anſteckenden Krankheiten — wie die Peſt — wenn jenes Verhältniß mangelt, bei noch ſo naher Be¬ rührung ohne Anſteckung bleiben. Hinzugefügt muß indeß bei Erwähnung dieſer Fälle 1 1 So mußte ich an dieſe Vorgänge denken, indem ich mir aus der früheſten Lebensgeſchichte eines bekannten außerordentlichen Talents für Zahlen¬ rechnung erzählen ließ. Dieſer Mann, bei welchem die ungeheuere innere Praxis des Rechnens alle andern und auch die höhern Geiſtesrichtungen abſorbirt hat, ſo daß eigentlich der höhere philoſophiſche und poetiſche Menſch ganz in dem Rechner untergegangen iſt, erfuhr als kleiner Knabe, wie ihm in der Schule die erſten Ziffern vorgeſchrieben wurden, ein wahres Entſetzen davor, ſo daß er nicht zur Schule kam, und daß er ſpäter erſt, durch Schläge zum Schulbeſuch und Rechnen angehalten, ganz zur Rechnenmaſchine wurde. Dieſes erſte Entſetzen vor Etwas, das ſpäter ſeine höhere Richtung völlig abſorbirt hat, mußte mir ſogleich be¬ deutungsvoll im obigen Sinne erſcheinen.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/carus_psyche_1846
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/carus_psyche_1846/399
Zitationshilfe: Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846, S. 383. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_psyche_1846/399>, abgerufen am 22.11.2024.