pflegt, und was überall, weil es auf der scharfen und schnellen Beurtheilung vorliegender Verhältnisse beruht, allein die rechte Willenskraft bethätigt, ist ohne reifere Erkennt¬ niß durchaus nicht möglich. Andererseits ist es auch wie¬ der unmöglich, daß die Erkenntniß wahrhaft reife, ohne daß der Geist durch Wirkung nach außen sich bewähre. Streng genommen kann ja das ganze Leben nur in so fern seinen Werth für das Wachsthum der Idee bekommen, indem es das Mittel ist, daß die Idee sich bethätige; wäre es möglich, daß eine Idee reifen könnte ohne Bethätigung, so wäre das ganze Dasein überflüssig.
So weit denn diese Verhältnisse! -- Was man krank¬ hafte Abschweifungen der Erkenntniß nennen könnte, ist eigentlich in dem schon inbegriffen was bei Betrachtung der niedern Erkenntniß als Bornirtheit und Irrthum, und in ihren äußersten Graden als Blödsinn und Verrücktheit erwähnt worden ist. Besonderer Bemerkung bedarf es in¬ deß, wie mächtig in dieser Beziehung die Einwirkung des unbewußten im bewußten Leben sich darstellt. Vielfältig ist schon gezeigt worden, wie die höchste Blüthe bewußten Geistes immer nur anzusehen sei als der ideelle Mittel- und Höhenpunkt alles dessen was zuvor, und was gleich¬ zeitig im Reiche des Unbewußtseins der Idee vorgeht, und wie sonach fortwährend auch die reinste Selbst-Offenbarung bewußten Geistes in der Erkenntniß bedingt werde durch eine reine Stimmung der im Dasein des Organismus waltenden unbewußten Idee. Wie demnach der Schwer¬ punkt eines Körpers sich verändert und verrückt, wenn eine Seite desselben auf einmal mehr als die andere be¬ lastet wird, so kann auch der reine Strahl der Erkenntniß, welcher in seinem eigenen innern Genügen und seiner innern Freudigkeit das Siegel seiner Wahrhaftigkeit trägt, nicht mehr als solcher gedacht werden, wenn bedeutendere Störungen das Gleichgewicht unbewußten organischen Lebens aufgehoben haben. Wie also das Auge bei der Gelbsucht
pflegt, und was überall, weil es auf der ſcharfen und ſchnellen Beurtheilung vorliegender Verhältniſſe beruht, allein die rechte Willenskraft bethätigt, iſt ohne reifere Erkennt¬ niß durchaus nicht möglich. Andererſeits iſt es auch wie¬ der unmöglich, daß die Erkenntniß wahrhaft reife, ohne daß der Geiſt durch Wirkung nach außen ſich bewähre. Streng genommen kann ja das ganze Leben nur in ſo fern ſeinen Werth für das Wachsthum der Idee bekommen, indem es das Mittel iſt, daß die Idee ſich bethätige; wäre es möglich, daß eine Idee reifen könnte ohne Bethätigung, ſo wäre das ganze Daſein überflüſſig.
So weit denn dieſe Verhältniſſe! — Was man krank¬ hafte Abſchweifungen der Erkenntniß nennen könnte, iſt eigentlich in dem ſchon inbegriffen was bei Betrachtung der niedern Erkenntniß als Bornirtheit und Irrthum, und in ihren äußerſten Graden als Blödſinn und Verrücktheit erwähnt worden iſt. Beſonderer Bemerkung bedarf es in¬ deß, wie mächtig in dieſer Beziehung die Einwirkung des unbewußten im bewußten Leben ſich darſtellt. Vielfältig iſt ſchon gezeigt worden, wie die höchſte Blüthe bewußten Geiſtes immer nur anzuſehen ſei als der ideelle Mittel- und Höhenpunkt alles deſſen was zuvor, und was gleich¬ zeitig im Reiche des Unbewußtſeins der Idee vorgeht, und wie ſonach fortwährend auch die reinſte Selbſt-Offenbarung bewußten Geiſtes in der Erkenntniß bedingt werde durch eine reine Stimmung der im Daſein des Organismus waltenden unbewußten Idee. Wie demnach der Schwer¬ punkt eines Körpers ſich verändert und verrückt, wenn eine Seite deſſelben auf einmal mehr als die andere be¬ laſtet wird, ſo kann auch der reine Strahl der Erkenntniß, welcher in ſeinem eigenen innern Genügen und ſeiner innern Freudigkeit das Siegel ſeiner Wahrhaftigkeit trägt, nicht mehr als ſolcher gedacht werden, wenn bedeutendere Störungen das Gleichgewicht unbewußten organiſchen Lebens aufgehoben haben. Wie alſo das Auge bei der Gelbſucht
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0363"n="347"/>
pflegt, und was überall, weil es auf der ſcharfen und<lb/>ſchnellen Beurtheilung vorliegender Verhältniſſe beruht, allein<lb/>
die rechte Willenskraft bethätigt, iſt ohne reifere Erkennt¬<lb/>
niß durchaus nicht möglich. Andererſeits iſt es auch wie¬<lb/>
der unmöglich, daß die Erkenntniß wahrhaft reife, ohne<lb/>
daß der Geiſt durch Wirkung nach außen ſich bewähre.<lb/>
Streng genommen kann ja das ganze Leben nur in ſo<lb/>
fern ſeinen Werth für das Wachsthum der Idee bekommen,<lb/>
indem es das Mittel iſt, daß die Idee ſich bethätige; wäre<lb/>
es möglich, daß eine Idee reifen könnte ohne Bethätigung,<lb/>ſo wäre das ganze Daſein überflüſſig.</p><lb/><p>So weit denn dieſe Verhältniſſe! — Was man <hirendition="#g">krank¬<lb/>
hafte Abſchweifungen</hi> der Erkenntniß nennen könnte,<lb/>
iſt eigentlich in <hirendition="#g">dem</hi>ſchon inbegriffen was bei Betrachtung<lb/>
der niedern Erkenntniß als Bornirtheit und Irrthum, und<lb/>
in ihren äußerſten Graden als Blödſinn und Verrücktheit<lb/>
erwähnt worden iſt. Beſonderer Bemerkung bedarf es in¬<lb/>
deß, wie mächtig in dieſer Beziehung die Einwirkung des<lb/>
unbewußten im bewußten Leben ſich darſtellt. Vielfältig<lb/>
iſt ſchon gezeigt worden, wie die höchſte Blüthe bewußten<lb/>
Geiſtes immer nur anzuſehen ſei als der ideelle Mittel-<lb/>
und Höhenpunkt alles deſſen was zuvor, und was gleich¬<lb/>
zeitig im Reiche des Unbewußtſeins der Idee vorgeht, und<lb/>
wie ſonach fortwährend auch die reinſte Selbſt-Offenbarung<lb/>
bewußten Geiſtes in der Erkenntniß bedingt werde durch<lb/>
eine reine Stimmung der im Daſein des Organismus<lb/>
waltenden unbewußten Idee. Wie demnach der Schwer¬<lb/>
punkt eines Körpers ſich verändert und verrückt, wenn<lb/>
eine Seite deſſelben auf einmal mehr als die andere be¬<lb/>
laſtet wird, ſo kann auch der reine Strahl der Erkenntniß,<lb/>
welcher in ſeinem eigenen innern Genügen und ſeiner<lb/>
innern Freudigkeit das Siegel ſeiner Wahrhaftigkeit trägt,<lb/>
nicht mehr als ſolcher gedacht werden, wenn bedeutendere<lb/>
Störungen das Gleichgewicht unbewußten organiſchen Lebens<lb/>
aufgehoben haben. Wie alſo das Auge bei der Gelbſucht<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[347/0363]
pflegt, und was überall, weil es auf der ſcharfen und
ſchnellen Beurtheilung vorliegender Verhältniſſe beruht, allein
die rechte Willenskraft bethätigt, iſt ohne reifere Erkennt¬
niß durchaus nicht möglich. Andererſeits iſt es auch wie¬
der unmöglich, daß die Erkenntniß wahrhaft reife, ohne
daß der Geiſt durch Wirkung nach außen ſich bewähre.
Streng genommen kann ja das ganze Leben nur in ſo
fern ſeinen Werth für das Wachsthum der Idee bekommen,
indem es das Mittel iſt, daß die Idee ſich bethätige; wäre
es möglich, daß eine Idee reifen könnte ohne Bethätigung,
ſo wäre das ganze Daſein überflüſſig.
So weit denn dieſe Verhältniſſe! — Was man krank¬
hafte Abſchweifungen der Erkenntniß nennen könnte,
iſt eigentlich in dem ſchon inbegriffen was bei Betrachtung
der niedern Erkenntniß als Bornirtheit und Irrthum, und
in ihren äußerſten Graden als Blödſinn und Verrücktheit
erwähnt worden iſt. Beſonderer Bemerkung bedarf es in¬
deß, wie mächtig in dieſer Beziehung die Einwirkung des
unbewußten im bewußten Leben ſich darſtellt. Vielfältig
iſt ſchon gezeigt worden, wie die höchſte Blüthe bewußten
Geiſtes immer nur anzuſehen ſei als der ideelle Mittel-
und Höhenpunkt alles deſſen was zuvor, und was gleich¬
zeitig im Reiche des Unbewußtſeins der Idee vorgeht, und
wie ſonach fortwährend auch die reinſte Selbſt-Offenbarung
bewußten Geiſtes in der Erkenntniß bedingt werde durch
eine reine Stimmung der im Daſein des Organismus
waltenden unbewußten Idee. Wie demnach der Schwer¬
punkt eines Körpers ſich verändert und verrückt, wenn
eine Seite deſſelben auf einmal mehr als die andere be¬
laſtet wird, ſo kann auch der reine Strahl der Erkenntniß,
welcher in ſeinem eigenen innern Genügen und ſeiner
innern Freudigkeit das Siegel ſeiner Wahrhaftigkeit trägt,
nicht mehr als ſolcher gedacht werden, wenn bedeutendere
Störungen das Gleichgewicht unbewußten organiſchen Lebens
aufgehoben haben. Wie alſo das Auge bei der Gelbſucht
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846, S. 347. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_psyche_1846/363>, abgerufen am 25.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.