Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846.

Bild:
<< vorherige Seite

und in dem unvollkommen entwickelten Menschen muß eine
Aufregung zur verderblichsten Unnatur werden, welche in
dem gereiften Lebenszustande als eine wahre Beglückung
und Gesundheit fördernde Befriedigung erscheint.

Was das Zweite betrifft, so muß zuerst diese
Richtung des Liebesgefühls selbst recht deutlich gemacht werden,
und es scheint mir dies kaum vollständiger erreicht werden
zu können als durch Mittheilung einer Stelle aus den schon
gedachten merkwürdigen Briefen von Heloise an Abälard.
So heißt es da: 1 "Nichts habe ich jemals, Gott weiß es, in
Dir gesucht, als Dich selber, nein nur Dich und nicht das
Deinige begehrend. Nicht den Bund der Ehe, nicht andere
Heirathsgüter habe ich erwartet, nicht meinen Willen und
meine Lust, sondern Deine zu erfüllen gestrebt, wie Du es
selber weißt. Und wenn der Name der Gattin heiliger
und würdiger scheint, süßer war mir's immer, Deine Ge¬
liebte zu heißen, oder wenn Du nicht darüber zürnen willst,
Deine Buhle oder Hetäre; damit, je tiefer ich mich
für Dich erniedrigte
, ich um so größere Huld
und Gnade bei Dir fände
, und den Glanz Deiner
Herrlichkeit weniger beleidigte." Wirklich ist in dieser Stelle
die ganze unbedingte Hingebung, Aufopferung, und folglich
auch Selbstdemüthigung vollkommen so ausgesprochen, wie
sie aus dem bezeichneten Wesen des hier betrachteten Ge¬
fühls hervorgeht, ja diese Selbstdemüthigung dieser Liebe
ist um so bedeutungsvoller, da sie, die hier die Scham des
bewußten Geistes in seiner gänzlichen Hingebung, theils an
das Unbewußte in sich, theils an die andere Seele über¬
windet, zugleich in dieser Selbstentäußerung eine eigen¬
thümliche Vorbereitung gewährt für noch höhere Formen
der Liebe. Einer jeden höhern menschlichen Natur wird
nämlich in dem Versinken und dem völligen Aufgehen in
einer andern Seele am deutlichsten sich erschließen das Ver¬

1 Abälard und Heloise, ihre Briefe und die Leidensgeschichte. V.
M. Carriere. Gießen 1844. S. 67.

und in dem unvollkommen entwickelten Menſchen muß eine
Aufregung zur verderblichſten Unnatur werden, welche in
dem gereiften Lebenszuſtande als eine wahre Beglückung
und Geſundheit fördernde Befriedigung erſcheint.

Was das Zweite betrifft, ſo muß zuerſt dieſe
Richtung des Liebesgefühls ſelbſt recht deutlich gemacht werden,
und es ſcheint mir dies kaum vollſtändiger erreicht werden
zu können als durch Mittheilung einer Stelle aus den ſchon
gedachten merkwürdigen Briefen von Heloiſe an Abälard.
So heißt es da: 1 „Nichts habe ich jemals, Gott weiß es, in
Dir geſucht, als Dich ſelber, nein nur Dich und nicht das
Deinige begehrend. Nicht den Bund der Ehe, nicht andere
Heirathsgüter habe ich erwartet, nicht meinen Willen und
meine Luſt, ſondern Deine zu erfüllen geſtrebt, wie Du es
ſelber weißt. Und wenn der Name der Gattin heiliger
und würdiger ſcheint, ſüßer war mir's immer, Deine Ge¬
liebte zu heißen, oder wenn Du nicht darüber zürnen willſt,
Deine Buhle oder Hetäre; damit, je tiefer ich mich
für Dich erniedrigte
, ich um ſo größere Huld
und Gnade bei Dir fände
, und den Glanz Deiner
Herrlichkeit weniger beleidigte.“ Wirklich iſt in dieſer Stelle
die ganze unbedingte Hingebung, Aufopferung, und folglich
auch Selbſtdemüthigung vollkommen ſo ausgeſprochen, wie
ſie aus dem bezeichneten Weſen des hier betrachteten Ge¬
fühls hervorgeht, ja dieſe Selbſtdemüthigung dieſer Liebe
iſt um ſo bedeutungsvoller, da ſie, die hier die Scham des
bewußten Geiſtes in ſeiner gänzlichen Hingebung, theils an
das Unbewußte in ſich, theils an die andere Seele über¬
windet, zugleich in dieſer Selbſtentäußerung eine eigen¬
thümliche Vorbereitung gewährt für noch höhere Formen
der Liebe. Einer jeden höhern menſchlichen Natur wird
nämlich in dem Verſinken und dem völligen Aufgehen in
einer andern Seele am deutlichſten ſich erſchließen das Ver¬

1 Abälard und Heloiſe, ihre Briefe und die Leidensgeſchichte. V.
M. Carriere. Gießen 1844. S. 67.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0312" n="296"/>
und in dem unvollkommen entwickelten Men&#x017F;chen muß eine<lb/>
Aufregung zur verderblich&#x017F;ten Unnatur werden, welche in<lb/>
dem gereiften Lebenszu&#x017F;tande als eine wahre Beglückung<lb/>
und Ge&#x017F;undheit fördernde Befriedigung er&#x017F;cheint.</p><lb/>
              <p>Was <hi rendition="#g">das Zweite</hi> betrifft, &#x017F;o muß zuer&#x017F;t <hi rendition="#g">die&#x017F;e</hi><lb/>
Richtung des Liebesgefühls &#x017F;elb&#x017F;t recht deutlich gemacht werden,<lb/>
und es &#x017F;cheint mir dies kaum voll&#x017F;tändiger erreicht werden<lb/>
zu können als durch Mittheilung einer Stelle aus den &#x017F;chon<lb/>
gedachten merkwürdigen Briefen von Heloi&#x017F;e an Abälard.<lb/>
So heißt es da: <note place="foot" n="1">Abälard und Heloi&#x017F;e, ihre Briefe und die Leidensge&#x017F;chichte. V.<lb/>
M. Carriere. Gießen 1844. S. 67.</note> &#x201E;Nichts habe ich jemals, Gott weiß es, in<lb/>
Dir ge&#x017F;ucht, als Dich &#x017F;elber, nein nur Dich und nicht das<lb/>
Deinige begehrend. Nicht den Bund der Ehe, nicht andere<lb/>
Heirathsgüter habe ich erwartet, nicht meinen Willen und<lb/>
meine Lu&#x017F;t, &#x017F;ondern Deine zu erfüllen ge&#x017F;trebt, wie Du es<lb/>
&#x017F;elber weißt. Und wenn der Name der Gattin heiliger<lb/>
und würdiger &#x017F;cheint, &#x017F;üßer war mir's immer, Deine Ge¬<lb/>
liebte zu heißen, oder wenn Du nicht darüber zürnen will&#x017F;t,<lb/>
Deine Buhle oder Hetäre; damit, <hi rendition="#g">je tiefer ich mich<lb/>
für Dich erniedrigte</hi>, <hi rendition="#g">ich um &#x017F;o größere Huld<lb/>
und Gnade bei Dir fände</hi>, und den Glanz Deiner<lb/>
Herrlichkeit weniger beleidigte.&#x201C; Wirklich i&#x017F;t in die&#x017F;er Stelle<lb/>
die ganze unbedingte Hingebung, Aufopferung, und folglich<lb/>
auch Selb&#x017F;tdemüthigung vollkommen &#x017F;o ausge&#x017F;prochen, wie<lb/>
&#x017F;ie aus dem bezeichneten We&#x017F;en des hier betrachteten Ge¬<lb/>
fühls hervorgeht, ja die&#x017F;e Selb&#x017F;tdemüthigung die&#x017F;er Liebe<lb/>
i&#x017F;t um &#x017F;o bedeutungsvoller, da &#x017F;ie, die hier die Scham des<lb/>
bewußten Gei&#x017F;tes in &#x017F;einer gänzlichen Hingebung, theils an<lb/>
das Unbewußte in &#x017F;ich, theils an die andere Seele über¬<lb/>
windet, zugleich in die&#x017F;er Selb&#x017F;tentäußerung eine eigen¬<lb/>
thümliche Vorbereitung gewährt für noch höhere Formen<lb/>
der Liebe. Einer jeden höhern men&#x017F;chlichen Natur wird<lb/>
nämlich in dem Ver&#x017F;inken und dem völligen Aufgehen in<lb/>
einer andern Seele am deutlich&#x017F;ten &#x017F;ich er&#x017F;chließen das Ver¬<lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[296/0312] und in dem unvollkommen entwickelten Menſchen muß eine Aufregung zur verderblichſten Unnatur werden, welche in dem gereiften Lebenszuſtande als eine wahre Beglückung und Geſundheit fördernde Befriedigung erſcheint. Was das Zweite betrifft, ſo muß zuerſt dieſe Richtung des Liebesgefühls ſelbſt recht deutlich gemacht werden, und es ſcheint mir dies kaum vollſtändiger erreicht werden zu können als durch Mittheilung einer Stelle aus den ſchon gedachten merkwürdigen Briefen von Heloiſe an Abälard. So heißt es da: 1 „Nichts habe ich jemals, Gott weiß es, in Dir geſucht, als Dich ſelber, nein nur Dich und nicht das Deinige begehrend. Nicht den Bund der Ehe, nicht andere Heirathsgüter habe ich erwartet, nicht meinen Willen und meine Luſt, ſondern Deine zu erfüllen geſtrebt, wie Du es ſelber weißt. Und wenn der Name der Gattin heiliger und würdiger ſcheint, ſüßer war mir's immer, Deine Ge¬ liebte zu heißen, oder wenn Du nicht darüber zürnen willſt, Deine Buhle oder Hetäre; damit, je tiefer ich mich für Dich erniedrigte, ich um ſo größere Huld und Gnade bei Dir fände, und den Glanz Deiner Herrlichkeit weniger beleidigte.“ Wirklich iſt in dieſer Stelle die ganze unbedingte Hingebung, Aufopferung, und folglich auch Selbſtdemüthigung vollkommen ſo ausgeſprochen, wie ſie aus dem bezeichneten Weſen des hier betrachteten Ge¬ fühls hervorgeht, ja dieſe Selbſtdemüthigung dieſer Liebe iſt um ſo bedeutungsvoller, da ſie, die hier die Scham des bewußten Geiſtes in ſeiner gänzlichen Hingebung, theils an das Unbewußte in ſich, theils an die andere Seele über¬ windet, zugleich in dieſer Selbſtentäußerung eine eigen¬ thümliche Vorbereitung gewährt für noch höhere Formen der Liebe. Einer jeden höhern menſchlichen Natur wird nämlich in dem Verſinken und dem völligen Aufgehen in einer andern Seele am deutlichſten ſich erſchließen das Ver¬ 1 Abälard und Heloiſe, ihre Briefe und die Leidensgeſchichte. V. M. Carriere. Gießen 1844. S. 67.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/carus_psyche_1846
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/carus_psyche_1846/312
Zitationshilfe: Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846, S. 296. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_psyche_1846/312>, abgerufen am 22.11.2024.