überhaupt viele Phasen von Entwicklungszuständen ihres gesammten Wesens erlebt haben. Ueberhaupt ist hier gleich mit darauf aufmerksam zu machen, daß durch die mächtigen Erregungen, welche das Liebesgefühl in der ganzen We¬ senheit des Menschen hervorruft und durch den mannich¬ faltigen Widerstreit, der sich hiebei begibt, so wie durch das Schwanken der Seele zwischen Glück der Befriedigung und Unglück des nicht Befriedigtseins, auf die merkwürdigste Weise zu der Entwicklung der Seele beigetragen werden muß und wirklich beigetragen wird, und daß schon deßhalb das Studium dieser Zustände stets eine der wichtigsten Auf¬ gaben bleiben wird für die Geschichte der Seele.
Was die andere Bedingung betrifft, unter welcher die Seeligkeit der Befriedigung erreicht wird, so mußten wir sie setzen in die noch bestehende volle Lebendigkeit des Daseins; denn wenn überhaupt die ganze Welt der Gefühle bei verminderter Lebendigkeit des Organismus ab¬ zublassen beginnt, so ist namentlich das den Gegensatz der Geschlechter vereinende Liebesgefühl als solches, ohne diese Lebendigkeit durchaus undenkbar, und es ist sehr merk¬ würdig zu beachten wie auf dem scheinbar Niedrigen hier ein sehr Hohes nothwendig mit begründet ist. So wenig als der geschlechtlich verkümmerte Mann, ist daher die ge¬ schlechtslose, also nur scheinbare Frau dieses Gefühls fähig, und es hat mir immer eigene Betrachtungen gegeben, wenn ich die Originalbriefe von Abälard und Heloise gelesen habe, darauf zu achten wie bei ihm, dem gewaltsam zer¬ störten Manne, bei ihm, der früher durch seine von Mund zu Mund gehenden Gesänge und die ganze eigenthümliche Liebesbegeisterung in seiner Geschichte, entschieden gerade dieses Liebesgefühl heftig bethätigt hatte, nur noch ein gewisser leerer Formalismus in den später geschriebenen Briefen sich ausspricht; während in ihren, unter dem Nonnenschleier geschriebenen Briefen, die wahre Empfindung der Liebe, in dem ganzen Verständniß der Nothwendigkeit
Carus, Psyche. 19
überhaupt viele Phaſen von Entwicklungszuſtänden ihres geſammten Weſens erlebt haben. Ueberhaupt iſt hier gleich mit darauf aufmerkſam zu machen, daß durch die mächtigen Erregungen, welche das Liebesgefühl in der ganzen We¬ ſenheit des Menſchen hervorruft und durch den mannich¬ faltigen Widerſtreit, der ſich hiebei begibt, ſo wie durch das Schwanken der Seele zwiſchen Glück der Befriedigung und Unglück des nicht Befriedigtſeins, auf die merkwürdigſte Weiſe zu der Entwicklung der Seele beigetragen werden muß und wirklich beigetragen wird, und daß ſchon deßhalb das Studium dieſer Zuſtände ſtets eine der wichtigſten Auf¬ gaben bleiben wird für die Geſchichte der Seele.
Was die andere Bedingung betrifft, unter welcher die Seeligkeit der Befriedigung erreicht wird, ſo mußten wir ſie ſetzen in die noch beſtehende volle Lebendigkeit des Daſeins; denn wenn überhaupt die ganze Welt der Gefühle bei verminderter Lebendigkeit des Organismus ab¬ zublaſſen beginnt, ſo iſt namentlich das den Gegenſatz der Geſchlechter vereinende Liebesgefühl als ſolches, ohne dieſe Lebendigkeit durchaus undenkbar, und es iſt ſehr merk¬ würdig zu beachten wie auf dem ſcheinbar Niedrigen hier ein ſehr Hohes nothwendig mit begründet iſt. So wenig als der geſchlechtlich verkümmerte Mann, iſt daher die ge¬ ſchlechtsloſe, alſo nur ſcheinbare Frau dieſes Gefühls fähig, und es hat mir immer eigene Betrachtungen gegeben, wenn ich die Originalbriefe von Abälard und Heloiſe geleſen habe, darauf zu achten wie bei ihm, dem gewaltſam zer¬ ſtörten Manne, bei ihm, der früher durch ſeine von Mund zu Mund gehenden Geſänge und die ganze eigenthümliche Liebesbegeiſterung in ſeiner Geſchichte, entſchieden gerade dieſes Liebesgefühl heftig bethätigt hatte, nur noch ein gewiſſer leerer Formalismus in den ſpäter geſchriebenen Briefen ſich ausſpricht; während in ihren, unter dem Nonnenſchleier geſchriebenen Briefen, die wahre Empfindung der Liebe, in dem ganzen Verſtändniß der Nothwendigkeit
Carus, Pſyche. 19
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überhaupt viele Phaſen von Entwicklungszuſtänden ihres
geſammten Weſens erlebt haben. Ueberhaupt iſt hier gleich
mit darauf aufmerkſam zu machen, daß durch die mächtigen
Erregungen, welche das Liebesgefühl in der ganzen We¬
ſenheit des Menſchen hervorruft und durch den mannich¬
faltigen Widerſtreit, der ſich hiebei begibt, ſo wie durch
das Schwanken der Seele zwiſchen Glück der Befriedigung
und Unglück des nicht Befriedigtſeins, auf die merkwürdigſte
Weiſe zu der Entwicklung der Seele beigetragen werden
muß und wirklich beigetragen wird, und daß ſchon deßhalb
das Studium dieſer Zuſtände ſtets eine der wichtigſten Auf¬
gaben bleiben wird für die Geſchichte der Seele.
Was die andere Bedingung betrifft, unter welcher die
Seeligkeit der Befriedigung erreicht wird, ſo mußten wir
ſie ſetzen in die noch beſtehende volle Lebendigkeit
des Daſeins; denn wenn überhaupt die ganze Welt der
Gefühle bei verminderter Lebendigkeit des Organismus ab¬
zublaſſen beginnt, ſo iſt namentlich das den Gegenſatz der
Geſchlechter vereinende Liebesgefühl als ſolches, ohne
dieſe Lebendigkeit durchaus undenkbar, und es iſt ſehr merk¬
würdig zu beachten wie auf dem ſcheinbar Niedrigen hier
ein ſehr Hohes nothwendig mit begründet iſt. So wenig
als der geſchlechtlich verkümmerte Mann, iſt daher die ge¬
ſchlechtsloſe, alſo nur ſcheinbare Frau dieſes Gefühls fähig,
und es hat mir immer eigene Betrachtungen gegeben, wenn
ich die Originalbriefe von Abälard und Heloiſe geleſen
habe, darauf zu achten wie bei ihm, dem gewaltſam zer¬
ſtörten Manne, bei ihm, der früher durch ſeine von Mund
zu Mund gehenden Geſänge und die ganze eigenthümliche
Liebesbegeiſterung in ſeiner Geſchichte, entſchieden gerade
dieſes Liebesgefühl heftig bethätigt hatte, nur noch ein
gewiſſer leerer Formalismus in den ſpäter geſchriebenen
Briefen ſich ausſpricht; während in ihren, unter dem
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Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846, S. 289. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_psyche_1846/305>, abgerufen am 22.11.2024.
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