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Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846.

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Licht und Dunkelheit wahrhafte Deutlichkeit erreicht. Daß
man dies bisher weniger eingesehen und angewendet hat,
lag offenbar daran, daß man den wichtigen Satz, den wir
an die Spitze aller unserer Betrachtungen stellen, und auf
den wir immer zurückkommen müssen, sich nicht zur Ueber¬
zeugung gebracht hatte, nämlich: "daß der Schlüssel zur
Erkenntniß vom Wesen des bewußten Seelenlebens gelegen
sei in der Region des Unbewußtseins."

Gehen wir nun auf diesem Wege der Betrachtung
weiter, so erschließt sich alsbald ein Mehreres über die
Verschiedenheit des männlichen und weiblichen Charakters;
es wird deutlich, daß das Weib eben vermöge eines ge¬
wissen Vorwaltens unbewußten Lebens auch fester und un¬
mittelbarer an jenem Göttlichen haften bleibt, welches wir,
eben weil es durch das Erkennen nie ganz ermessen werden
kann, als ein Mysterium, und als den Urgrund und die
höchste Bedingung alles Seienden verehren, während der
Mann bei seiner Aufgabe zur vollkommnen That des selbst¬
bewußten Geistes hindurch zu dringen, leichtlich von dem
Haften an diesem Mysterium sich allzuweit entfernen kann.
Freilich wird auch der Mann einerseits, wenn er im Stande
ist die Region des Unbewußten mit in seinen Calcul immer¬
fort aufzunehmen, einer in jeder Beziehung höhern Ent¬
faltung der Seele und des Geistes fähig werden, als die
Frau; aber andrerseits wird er unfehlbar, wenn er über
das Bewußte das Unbewußte ganz aufgeben will und in
einer einseitigen egoistischen oder bloß weltlichen Richtung
sein geistiges Leben zu einer gewissen Starrheit kommen
läßt, weit hinter der Lebendigkeit und Bildsamkeit des Weibes
zurückbleiben. Unter den Frauen bleibt daher in der Mehr¬
zahl, eben weil zuhöchst überall ein für uns Unbewußtes
in der Tiefe der Erscheinungen ruht, ein gewisses unbe¬
wußtes Abfühlen der innersten geheimnißvollen Wesenheit
der Natur und des Geistes vorhanden, und sie behalten
dadurch einen eigenthümlichen Fonds von Lebendigkeit und

Licht und Dunkelheit wahrhafte Deutlichkeit erreicht. Daß
man dies bisher weniger eingeſehen und angewendet hat,
lag offenbar daran, daß man den wichtigen Satz, den wir
an die Spitze aller unſerer Betrachtungen ſtellen, und auf
den wir immer zurückkommen müſſen, ſich nicht zur Ueber¬
zeugung gebracht hatte, nämlich: „daß der Schlüſſel zur
Erkenntniß vom Weſen des bewußten Seelenlebens gelegen
ſei in der Region des Unbewußtſeins.“

Gehen wir nun auf dieſem Wege der Betrachtung
weiter, ſo erſchließt ſich alsbald ein Mehreres über die
Verſchiedenheit des männlichen und weiblichen Charakters;
es wird deutlich, daß das Weib eben vermöge eines ge¬
wiſſen Vorwaltens unbewußten Lebens auch feſter und un¬
mittelbarer an jenem Göttlichen haften bleibt, welches wir,
eben weil es durch das Erkennen nie ganz ermeſſen werden
kann, als ein Myſterium, und als den Urgrund und die
höchſte Bedingung alles Seienden verehren, während der
Mann bei ſeiner Aufgabe zur vollkommnen That des ſelbſt¬
bewußten Geiſtes hindurch zu dringen, leichtlich von dem
Haften an dieſem Myſterium ſich allzuweit entfernen kann.
Freilich wird auch der Mann einerſeits, wenn er im Stande
iſt die Region des Unbewußten mit in ſeinen Calcul immer¬
fort aufzunehmen, einer in jeder Beziehung höhern Ent¬
faltung der Seele und des Geiſtes fähig werden, als die
Frau; aber andrerſeits wird er unfehlbar, wenn er über
das Bewußte das Unbewußte ganz aufgeben will und in
einer einſeitigen egoiſtiſchen oder bloß weltlichen Richtung
ſein geiſtiges Leben zu einer gewiſſen Starrheit kommen
läßt, weit hinter der Lebendigkeit und Bildſamkeit des Weibes
zurückbleiben. Unter den Frauen bleibt daher in der Mehr¬
zahl, eben weil zuhöchſt überall ein für uns Unbewußtes
in der Tiefe der Erſcheinungen ruht, ein gewiſſes unbe¬
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[258/0274] Licht und Dunkelheit wahrhafte Deutlichkeit erreicht. Daß man dies bisher weniger eingeſehen und angewendet hat, lag offenbar daran, daß man den wichtigen Satz, den wir an die Spitze aller unſerer Betrachtungen ſtellen, und auf den wir immer zurückkommen müſſen, ſich nicht zur Ueber¬ zeugung gebracht hatte, nämlich: „daß der Schlüſſel zur Erkenntniß vom Weſen des bewußten Seelenlebens gelegen ſei in der Region des Unbewußtſeins.“ Gehen wir nun auf dieſem Wege der Betrachtung weiter, ſo erſchließt ſich alsbald ein Mehreres über die Verſchiedenheit des männlichen und weiblichen Charakters; es wird deutlich, daß das Weib eben vermöge eines ge¬ wiſſen Vorwaltens unbewußten Lebens auch feſter und un¬ mittelbarer an jenem Göttlichen haften bleibt, welches wir, eben weil es durch das Erkennen nie ganz ermeſſen werden kann, als ein Myſterium, und als den Urgrund und die höchſte Bedingung alles Seienden verehren, während der Mann bei ſeiner Aufgabe zur vollkommnen That des ſelbſt¬ bewußten Geiſtes hindurch zu dringen, leichtlich von dem Haften an dieſem Myſterium ſich allzuweit entfernen kann. Freilich wird auch der Mann einerſeits, wenn er im Stande iſt die Region des Unbewußten mit in ſeinen Calcul immer¬ fort aufzunehmen, einer in jeder Beziehung höhern Ent¬ faltung der Seele und des Geiſtes fähig werden, als die Frau; aber andrerſeits wird er unfehlbar, wenn er über das Bewußte das Unbewußte ganz aufgeben will und in einer einſeitigen egoiſtiſchen oder bloß weltlichen Richtung ſein geiſtiges Leben zu einer gewiſſen Starrheit kommen läßt, weit hinter der Lebendigkeit und Bildſamkeit des Weibes zurückbleiben. Unter den Frauen bleibt daher in der Mehr¬ zahl, eben weil zuhöchſt überall ein für uns Unbewußtes in der Tiefe der Erſcheinungen ruht, ein gewiſſes unbe¬ wußtes Abfühlen der innerſten geheimnißvollen Weſenheit der Natur und des Geiſtes vorhanden, und ſie behalten dadurch einen eigenthümlichen Fonds von Lebendigkeit und

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Zitationshilfe: Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846, S. 258. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_psyche_1846/274>, abgerufen am 25.11.2024.