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Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846.

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vermehrt sein muß. Ein solches Hervorrufen des Unbe¬
wußten also, eben weil es nicht durch die gewöhnliche Er¬
müdung entsteht, sondern in der Somnambule gewaltsam
veranlaßt wird, durch ein starkes Angezogen-werden ihrer
Innervationsströmung nach Außen 1 und der somit plötzlich
herabgesetzten individuellen Freiheit des Bewußtseins im
Innern, erscheint eben dadurch nicht als ein gewöhnlicher,
sondern als ein potenzirter, gesteigerter Schlaf, und eben
darum muß denn auch die Verallgemeinerung der Seele
sich hier steigern und die Vorgefühle und Mitgefühle zu
Entfernten, müssen sich hier nothwendig mehr bemerkbar
machen als bei natürlich Schlafenden, als wodurch denn
nun allerdings der wesentliche Grund alles somnambulen
Fernsehens hinlänglich gegeben ist. Es geht indeß auch
aus dem Vorigen deutlich hervor, was man von den De¬
clamationen zu halten habe, welche den somnambulen Zu¬
stand gerade wegen dieser erhöhten weit ausgedehnten Sphäre
seiner Sensibilität als den höchsten menschlichen, oder
-- wie man wohl zu sagen pflegt -- überirdischen Zu¬
stand darstellen. Wenn wir nämlich eingesehen haben, daß
gerade die höchste Entwicklung des Geistes die der Vernunft
sei, und daß es von einem klaren vernünftigen Schauen
allein abhänge, wenn die edelsten Blüthen der Menschheit,
die Wissenschaft, die Kunst und die freie edle That zur
Wirklichkeit werden sollen, daß aber dieses klare vernünftige
Schauen und Thun eine reine gesunde Folge gesammter
Entwicklung voraussetze und fortwährend diese, so wie eine
freie vielseitige Wechselwirkung mit Welt und Menschheit

1 Dieses Anziehen der Innervationsströme eines Individuums durch
die stärkere Innervation eines Andern nach Außen ist sehr merkwürdig.
Sie wird durch die sensibeln Atmosphären, welche die Innervation um
die räumlich begränzten Nervensysteme verbreitet, so wie durch die eignen
Organe der Handnerven (die paccinischen Nervenknötchen, gleichsam Con¬
densatoren der Innervation) erklärt. Dieses Angezogenwerden des schwächern
Nervenlebens durch das stärkere erinnert übrigens an die alte Benennung
des Bernsteins, welcher wegen seines elektrischen Anziehens von Papier¬
flocken Harpaga -- Räuber -- genannt wurde.

vermehrt ſein muß. Ein ſolches Hervorrufen des Unbe¬
wußten alſo, eben weil es nicht durch die gewöhnliche Er¬
müdung entſteht, ſondern in der Somnambule gewaltſam
veranlaßt wird, durch ein ſtarkes Angezogen-werden ihrer
Innervationsſtrömung nach Außen 1 und der ſomit plötzlich
herabgeſetzten individuellen Freiheit des Bewußtſeins im
Innern, erſcheint eben dadurch nicht als ein gewöhnlicher,
ſondern als ein potenzirter, geſteigerter Schlaf, und eben
darum muß denn auch die Verallgemeinerung der Seele
ſich hier ſteigern und die Vorgefühle und Mitgefühle zu
Entfernten, müſſen ſich hier nothwendig mehr bemerkbar
machen als bei natürlich Schlafenden, als wodurch denn
nun allerdings der weſentliche Grund alles ſomnambulen
Fernſehens hinlänglich gegeben iſt. Es geht indeß auch
aus dem Vorigen deutlich hervor, was man von den De¬
clamationen zu halten habe, welche den ſomnambulen Zu¬
ſtand gerade wegen dieſer erhöhten weit ausgedehnten Sphäre
ſeiner Senſibilität als den höchſten menſchlichen, oder
— wie man wohl zu ſagen pflegt — überirdiſchen Zu¬
ſtand darſtellen. Wenn wir nämlich eingeſehen haben, daß
gerade die höchſte Entwicklung des Geiſtes die der Vernunft
ſei, und daß es von einem klaren vernünftigen Schauen
allein abhänge, wenn die edelſten Blüthen der Menſchheit,
die Wiſſenſchaft, die Kunſt und die freie edle That zur
Wirklichkeit werden ſollen, daß aber dieſes klare vernünftige
Schauen und Thun eine reine geſunde Folge geſammter
Entwicklung vorausſetze und fortwährend dieſe, ſo wie eine
freie vielſeitige Wechſelwirkung mit Welt und Menſchheit

1 Dieſes Anziehen der Innervationsſtröme eines Individuums durch
die ſtärkere Innervation eines Andern nach Außen iſt ſehr merkwürdig.
Sie wird durch die ſenſibeln Atmoſphären, welche die Innervation um
die räumlich begränzten Nervenſyſteme verbreitet, ſo wie durch die eignen
Organe der Handnerven (die pacciniſchen Nervenknötchen, gleichſam Con¬
denſatoren der Innervation) erklärt. Dieſes Angezogenwerden des ſchwächern
Nervenlebens durch das ſtärkere erinnert übrigens an die alte Benennung
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flocken Harpaga — Räuber — genannt wurde.
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[223/0239] vermehrt ſein muß. Ein ſolches Hervorrufen des Unbe¬ wußten alſo, eben weil es nicht durch die gewöhnliche Er¬ müdung entſteht, ſondern in der Somnambule gewaltſam veranlaßt wird, durch ein ſtarkes Angezogen-werden ihrer Innervationsſtrömung nach Außen 1 und der ſomit plötzlich herabgeſetzten individuellen Freiheit des Bewußtſeins im Innern, erſcheint eben dadurch nicht als ein gewöhnlicher, ſondern als ein potenzirter, geſteigerter Schlaf, und eben darum muß denn auch die Verallgemeinerung der Seele ſich hier ſteigern und die Vorgefühle und Mitgefühle zu Entfernten, müſſen ſich hier nothwendig mehr bemerkbar machen als bei natürlich Schlafenden, als wodurch denn nun allerdings der weſentliche Grund alles ſomnambulen Fernſehens hinlänglich gegeben iſt. Es geht indeß auch aus dem Vorigen deutlich hervor, was man von den De¬ clamationen zu halten habe, welche den ſomnambulen Zu¬ ſtand gerade wegen dieſer erhöhten weit ausgedehnten Sphäre ſeiner Senſibilität als den höchſten menſchlichen, oder — wie man wohl zu ſagen pflegt — überirdiſchen Zu¬ ſtand darſtellen. Wenn wir nämlich eingeſehen haben, daß gerade die höchſte Entwicklung des Geiſtes die der Vernunft ſei, und daß es von einem klaren vernünftigen Schauen allein abhänge, wenn die edelſten Blüthen der Menſchheit, die Wiſſenſchaft, die Kunſt und die freie edle That zur Wirklichkeit werden ſollen, daß aber dieſes klare vernünftige Schauen und Thun eine reine geſunde Folge geſammter Entwicklung vorausſetze und fortwährend dieſe, ſo wie eine freie vielſeitige Wechſelwirkung mit Welt und Menſchheit 1 Dieſes Anziehen der Innervationsſtröme eines Individuums durch die ſtärkere Innervation eines Andern nach Außen iſt ſehr merkwürdig. Sie wird durch die ſenſibeln Atmoſphären, welche die Innervation um die räumlich begränzten Nervenſyſteme verbreitet, ſo wie durch die eignen Organe der Handnerven (die pacciniſchen Nervenknötchen, gleichſam Con¬ denſatoren der Innervation) erklärt. Dieſes Angezogenwerden des ſchwächern Nervenlebens durch das ſtärkere erinnert übrigens an die alte Benennung des Bernſteins, welcher wegen ſeines elektriſchen Anziehens von Papier¬ flocken Harpaga — Räuber — genannt wurde.

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Zitationshilfe: Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846, S. 223. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_psyche_1846/239>, abgerufen am 25.11.2024.