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Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846.

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"Darin, ihr Götter, macht ihr Schwache stark,
Darin, ihr Götter, bändigt ihr Tyrannen;
Noch felsenfeste Burg, noch eh'rne Mauern,
Noch dumpfe Kerker, noch der Ketten Last,
Sind Hindernisse für des Geistes Stärke,
Das Leben, dieser Erdenschranken satt,
Hat stets die Macht sich selber zu entlassen."

Mögen daher auch die Fälle, wo das bewußte Seelen¬
leben berechtigt ist das unbewußte und somit seine eigne
Vorstellungswelt zu vernichten, auf die allerwenigsten sich
reduciren lassen, ja möchte es in jedem einzelnen solchen
Falle immer noch fast unmöglich bleiben die absolute Noth¬
wendigkeit des Selbstmordes darzuthun, eben wegen des
Geheimnißvollen und zuletzt doch Unergründlichen alles
Menschenlebens, in welchem auch die scheinbar klarste Er¬
kenntniß gewöhnlich nicht mit unbedingter Nothwendigkeit
nachzuweisen vermag, daß wirklich alle andern Auswege
versperrt sind und versperrt bleiben werden -- immer würde
doch daß diese Möglichkeit gegeben ist, ein un¬
schätzbares Gut und im eigentlichen Sinne die Spitze des
vollkommnen Freiseins eines vollkommnen Selbstbewußt¬
seins genannt werden müssen. Wer diese Verhältnisse recht
bedenken will, dem kann daran klar werden, warum in der
Geschichte der Menschheit theils einzelne Fälle des Selbst¬
mordes bedeutender Menschen sehr hoch gehalten werden,
und warum theils die große Menge gewöhnlicher Selbst¬
morde nur dem Mitleide (in so fern sie von krankhaften
Seelenzuständen veranlaßt wird) oder der Verachtung sich
preisgegeben finden (in so fern in ihnen ein nichtiges aufs
Aeußerste gesunkenes Leben ausläuft). Jedes nicht voll¬
kommen zu rechtfertigende nicht bloß Vernichten, sondern
überhaupt Schädigen des Unbewußten in uns, muß aber um
so mehr als ein Frevel erscheinen, je mehr wir im Vor¬
hergehenden gelernt haben in demselben das ursprünglich
Göttliche der Idee zu verehren.

„Darin, ihr Götter, macht ihr Schwache ſtark,
Darin, ihr Götter, bändigt ihr Tyrannen;
Noch felſenfeſte Burg, noch eh'rne Mauern,
Noch dumpfe Kerker, noch der Ketten Laſt,
Sind Hinderniſſe für des Geiſtes Stärke,
Das Leben, dieſer Erdenſchranken ſatt,
Hat ſtets die Macht ſich ſelber zu entlaſſen.“

Mögen daher auch die Fälle, wo das bewußte Seelen¬
leben berechtigt iſt das unbewußte und ſomit ſeine eigne
Vorſtellungswelt zu vernichten, auf die allerwenigſten ſich
reduciren laſſen, ja möchte es in jedem einzelnen ſolchen
Falle immer noch faſt unmöglich bleiben die abſolute Noth¬
wendigkeit des Selbſtmordes darzuthun, eben wegen des
Geheimnißvollen und zuletzt doch Unergründlichen alles
Menſchenlebens, in welchem auch die ſcheinbar klarſte Er¬
kenntniß gewöhnlich nicht mit unbedingter Nothwendigkeit
nachzuweiſen vermag, daß wirklich alle andern Auswege
verſperrt ſind und verſperrt bleiben werden — immer würde
doch daß dieſe Möglichkeit gegeben iſt, ein un¬
ſchätzbares Gut und im eigentlichen Sinne die Spitze des
vollkommnen Freiſeins eines vollkommnen Selbſtbewußt¬
ſeins genannt werden müſſen. Wer dieſe Verhältniſſe recht
bedenken will, dem kann daran klar werden, warum in der
Geſchichte der Menſchheit theils einzelne Fälle des Selbſt¬
mordes bedeutender Menſchen ſehr hoch gehalten werden,
und warum theils die große Menge gewöhnlicher Selbſt¬
morde nur dem Mitleide (in ſo fern ſie von krankhaften
Seelenzuſtänden veranlaßt wird) oder der Verachtung ſich
preisgegeben finden (in ſo fern in ihnen ein nichtiges aufs
Aeußerſte geſunkenes Leben ausläuft). Jedes nicht voll¬
kommen zu rechtfertigende nicht bloß Vernichten, ſondern
überhaupt Schädigen des Unbewußten in uns, muß aber um
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Göttliche der Idee zu verehren.

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[202/0218] „Darin, ihr Götter, macht ihr Schwache ſtark, Darin, ihr Götter, bändigt ihr Tyrannen; Noch felſenfeſte Burg, noch eh'rne Mauern, Noch dumpfe Kerker, noch der Ketten Laſt, Sind Hinderniſſe für des Geiſtes Stärke, Das Leben, dieſer Erdenſchranken ſatt, Hat ſtets die Macht ſich ſelber zu entlaſſen.“ Mögen daher auch die Fälle, wo das bewußte Seelen¬ leben berechtigt iſt das unbewußte und ſomit ſeine eigne Vorſtellungswelt zu vernichten, auf die allerwenigſten ſich reduciren laſſen, ja möchte es in jedem einzelnen ſolchen Falle immer noch faſt unmöglich bleiben die abſolute Noth¬ wendigkeit des Selbſtmordes darzuthun, eben wegen des Geheimnißvollen und zuletzt doch Unergründlichen alles Menſchenlebens, in welchem auch die ſcheinbar klarſte Er¬ kenntniß gewöhnlich nicht mit unbedingter Nothwendigkeit nachzuweiſen vermag, daß wirklich alle andern Auswege verſperrt ſind und verſperrt bleiben werden — immer würde doch daß dieſe Möglichkeit gegeben iſt, ein un¬ ſchätzbares Gut und im eigentlichen Sinne die Spitze des vollkommnen Freiſeins eines vollkommnen Selbſtbewußt¬ ſeins genannt werden müſſen. Wer dieſe Verhältniſſe recht bedenken will, dem kann daran klar werden, warum in der Geſchichte der Menſchheit theils einzelne Fälle des Selbſt¬ mordes bedeutender Menſchen ſehr hoch gehalten werden, und warum theils die große Menge gewöhnlicher Selbſt¬ morde nur dem Mitleide (in ſo fern ſie von krankhaften Seelenzuſtänden veranlaßt wird) oder der Verachtung ſich preisgegeben finden (in ſo fern in ihnen ein nichtiges aufs Aeußerſte geſunkenes Leben ausläuft). Jedes nicht voll¬ kommen zu rechtfertigende nicht bloß Vernichten, ſondern überhaupt Schädigen des Unbewußten in uns, muß aber um ſo mehr als ein Frevel erſcheinen, je mehr wir im Vor¬ hergehenden gelernt haben in demſelben das urſprünglich Göttliche der Idee zu verehren.

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Zitationshilfe: Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846, S. 202. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_psyche_1846/218>, abgerufen am 24.11.2024.