Obwohl wir den gesammten Organismus geradezu als leiblichen Ausdruck, als Phänomen der Grundidee unsers Daseins betrachten dürfen, so ist doch, wie wir früher nachgewiesen haben, in so weit als diese Idee zum Bewußtsein kommt, nur das eigentlich seelische Gebilde die¬ ses Organismus, das Gebilde in welchem sich die halb¬ flüssige, von der Idee aus durch und durch impressionable Ursubstanz am reinsten erhalten hat, das Nervensystem, ihr vorzüglichstes Phänomen, ihre erste sinnliche Erscheinung, und dadurch eben auch die erste Bedingung ihrer Offen¬ barung zu nennen. Von diesem großen viel verzweigten Gebilde sind aber wieder nicht alle Theile in gleichem Maße auf die höchsten Erscheinungen des Seelenlebens bezüglich. Eine Menge von äußern Zweigen dieses Systems, alle Nerven der Gliedmaßen, Nerven der großen Sinnesorgane sogar, können obliteriren, ja es kann selbst der Stamm, aus welchem die meisten Nerven des Körpers ausgehen und in welchen ihre Fasern zurücklaufen, das Rückenmark, von unten auf weiter und weiter zerstört werden (wobei freilich in Kur¬ zem das Leben überhaupt aufgehoben wird), ohne daß das Vorstellungsleben und das aus ihm hervorgehende Bewußt¬ sein vernichtet wird; und alles dies beweist unwiderleglich, daß in allen jenem Aeußern nicht die organisch räumliche Bedingung des Bewußtseins gegeben ist. So wie wir da¬ gegen die große Centralmasse des Nervensystems, das Ge¬ hirn, in welcher die größte Anhäufung der eigentlich pri¬ mitiven Nervensubstanz (d. i. der sogenannten Belegungs¬ masse, welche aus halbflüssigen Urzellen besteht) sich findet, irgendwie beeinträchtigen, bedrücken oder verletzen, so wird sogleich auch das Vorstellungsleben beeinträchtigt und bei irgend einem höhern Grade der Verletzung, oder bei Krän¬ kung durch abnormes Leben, wird das Bewußtsein gestört, die Reihenfolge der in ihm fortwährend erscheinenden Vor¬ stellungen in Unordnung gebracht und gehemmt, ja endlich das Bewußtsein vollkommen aufgehoben. Hiedurch kann
Obwohl wir den geſammten Organismus geradezu als leiblichen Ausdruck, als Phänomen der Grundidee unſers Daſeins betrachten dürfen, ſo iſt doch, wie wir früher nachgewieſen haben, in ſo weit als dieſe Idee zum Bewußtſein kommt, nur das eigentlich ſeeliſche Gebilde die¬ ſes Organismus, das Gebilde in welchem ſich die halb¬ flüſſige, von der Idee aus durch und durch impreſſionable Urſubſtanz am reinſten erhalten hat, das Nervenſyſtem, ihr vorzüglichſtes Phänomen, ihre erſte ſinnliche Erſcheinung, und dadurch eben auch die erſte Bedingung ihrer Offen¬ barung zu nennen. Von dieſem großen viel verzweigten Gebilde ſind aber wieder nicht alle Theile in gleichem Maße auf die höchſten Erſcheinungen des Seelenlebens bezüglich. Eine Menge von äußern Zweigen dieſes Syſtems, alle Nerven der Gliedmaßen, Nerven der großen Sinnesorgane ſogar, können obliteriren, ja es kann ſelbſt der Stamm, aus welchem die meiſten Nerven des Körpers ausgehen und in welchen ihre Faſern zurücklaufen, das Rückenmark, von unten auf weiter und weiter zerſtört werden (wobei freilich in Kur¬ zem das Leben überhaupt aufgehoben wird), ohne daß das Vorſtellungsleben und das aus ihm hervorgehende Bewußt¬ ſein vernichtet wird; und alles dies beweist unwiderleglich, daß in allen jenem Aeußern nicht die organiſch räumliche Bedingung des Bewußtſeins gegeben iſt. So wie wir da¬ gegen die große Centralmaſſe des Nervenſyſtems, das Ge¬ hirn, in welcher die größte Anhäufung der eigentlich pri¬ mitiven Nervenſubſtanz (d. i. der ſogenannten Belegungs¬ maſſe, welche aus halbflüſſigen Urzellen beſteht) ſich findet, irgendwie beeinträchtigen, bedrücken oder verletzen, ſo wird ſogleich auch das Vorſtellungsleben beeinträchtigt und bei irgend einem höhern Grade der Verletzung, oder bei Krän¬ kung durch abnormes Leben, wird das Bewußtſein geſtört, die Reihenfolge der in ihm fortwährend erſcheinenden Vor¬ ſtellungen in Unordnung gebracht und gehemmt, ja endlich das Bewußtſein vollkommen aufgehoben. Hiedurch kann
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Obwohl wir den geſammten Organismus geradezu
als leiblichen Ausdruck, als Phänomen der Grundidee
unſers Daſeins betrachten dürfen, ſo iſt doch, wie wir
früher nachgewieſen haben, in ſo weit als dieſe Idee zum
Bewußtſein kommt, nur das eigentlich ſeeliſche Gebilde die¬
ſes Organismus, das Gebilde in welchem ſich die halb¬
flüſſige, von der Idee aus durch und durch impreſſionable
Urſubſtanz am reinſten erhalten hat, das Nervenſyſtem,
ihr vorzüglichſtes Phänomen, ihre erſte ſinnliche Erſcheinung,
und dadurch eben auch die erſte Bedingung ihrer Offen¬
barung zu nennen. Von dieſem großen viel verzweigten
Gebilde ſind aber wieder nicht alle Theile in gleichem Maße
auf die höchſten Erſcheinungen des Seelenlebens bezüglich.
Eine Menge von äußern Zweigen dieſes Syſtems, alle
Nerven der Gliedmaßen, Nerven der großen Sinnesorgane
ſogar, können obliteriren, ja es kann ſelbſt der Stamm, aus
welchem die meiſten Nerven des Körpers ausgehen und in
welchen ihre Faſern zurücklaufen, das Rückenmark, von unten
auf weiter und weiter zerſtört werden (wobei freilich in Kur¬
zem das Leben überhaupt aufgehoben wird), ohne daß das
Vorſtellungsleben und das aus ihm hervorgehende Bewußt¬
ſein vernichtet wird; und alles dies beweist unwiderleglich,
daß in allen jenem Aeußern nicht die organiſch räumliche
Bedingung des Bewußtſeins gegeben iſt. So wie wir da¬
gegen die große Centralmaſſe des Nervenſyſtems, das Ge¬
hirn, in welcher die größte Anhäufung der eigentlich pri¬
mitiven Nervenſubſtanz (d. i. der ſogenannten Belegungs¬
maſſe, welche aus halbflüſſigen Urzellen beſteht) ſich findet,
irgendwie beeinträchtigen, bedrücken oder verletzen, ſo wird
ſogleich auch das Vorſtellungsleben beeinträchtigt und bei
irgend einem höhern Grade der Verletzung, oder bei Krän¬
kung durch abnormes Leben, wird das Bewußtſein geſtört,
die Reihenfolge der in ihm fortwährend erſcheinenden Vor¬
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Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846, S. 175. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_psyche_1846/191>, abgerufen am 24.11.2024.
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