Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846.

Bild:
<< vorherige Seite

und in einem wahren auf Erfüllung gemeinsamer Zwecke
gegründeten Vereinleben, das Vorbild der nur im Menschen
erst wirklich werdenden Verbindung Vieler zum Staate ab¬
gibt. Alles schwankt indeß immer noch zwischen unbedingter
Nothwendigkeit und geringer Willkür so sehr hin und her,
selbst in dem Lebenkreise der scheinbar intelligentsten Ge¬
schöpfe der niedern Klassen dieser Reihe (man denke nur
an den Staat der Ameisen und Bienen), daß dem Indi¬
viduum kaum noch Ahnungen einer besondern psychischen
Spontaneität zuzuerkennen sind. Dafür sind jedoch Er¬
scheinungen des Vereinlebens auf dieser Stufe psychologisch
sehr lehrreich, indem sich an ihnen besonders deutlich er¬
kennen läßt, daß eine sehr bestimmte, und auch in mancher
Beziehung freier gewordne Individualität der Idee in
einer Vielheit von Wesen
, sich sehr entschieden dar¬
leben kann, während alle die besondern Glieder dieser
Vielheit eine weit schwächere psychische Entwick¬
lung verrathen
. Die Idee der Gattung, von welcher
schon früher die Rede war, macht sich nirgends mehr als
in solchen Vorgängen, als ein organisches Ganzes, der
Idee des Individuums gegenüber, geltend. Nirgends besser
als hier kann man sich daher auch darüber verständigen,
wie es keinesweges Bedingung sei, daß eine Idee sich
einzig und allein durch das Einzelne, was wir ge¬
meinhin einen Organismus -- einen realen Organismus --
nennen, darleben müsse, sondern daß sehr bestimmte Fälle
und in Menge, vorkommen, wo eine Idee nur durch eine
Gesammtheit -- einen ideellen Organismus -- aus vielen
untergeordneten Organismen bestehend, sich darleben kann.
Eine Bemerkung, welche, um den höhern -- die einzelnen
Menschen insgesammt einbegreifenden ideellen Organismus
der Menschheit zu erfassen und zu verstehen sehr beachtet
zu werden verdient. Man studire nur die Geschichte eines
Bienenstaates, die Weisheit darin herrschender Anordnun¬
gen, das Heranziehen der Königin, das Umbringen der

und in einem wahren auf Erfüllung gemeinſamer Zwecke
gegründeten Vereinleben, das Vorbild der nur im Menſchen
erſt wirklich werdenden Verbindung Vieler zum Staate ab¬
gibt. Alles ſchwankt indeß immer noch zwiſchen unbedingter
Nothwendigkeit und geringer Willkür ſo ſehr hin und her,
ſelbſt in dem Lebenkreiſe der ſcheinbar intelligentſten Ge¬
ſchöpfe der niedern Klaſſen dieſer Reihe (man denke nur
an den Staat der Ameiſen und Bienen), daß dem Indi¬
viduum kaum noch Ahnungen einer beſondern pſychiſchen
Spontaneität zuzuerkennen ſind. Dafür ſind jedoch Er¬
ſcheinungen des Vereinlebens auf dieſer Stufe pſychologiſch
ſehr lehrreich, indem ſich an ihnen beſonders deutlich er¬
kennen läßt, daß eine ſehr beſtimmte, und auch in mancher
Beziehung freier gewordne Individualität der Idee in
einer Vielheit von Weſen
, ſich ſehr entſchieden dar¬
leben kann, während alle die beſondern Glieder dieſer
Vielheit eine weit ſchwächere pſychiſche Entwick¬
lung verrathen
. Die Idee der Gattung, von welcher
ſchon früher die Rede war, macht ſich nirgends mehr als
in ſolchen Vorgängen, als ein organiſches Ganzes, der
Idee des Individuums gegenüber, geltend. Nirgends beſſer
als hier kann man ſich daher auch darüber verſtändigen,
wie es keinesweges Bedingung ſei, daß eine Idee ſich
einzig und allein durch das Einzelne, was wir ge¬
meinhin einen Organismus — einen realen Organismus —
nennen, darleben müſſe, ſondern daß ſehr beſtimmte Fälle
und in Menge, vorkommen, wo eine Idee nur durch eine
Geſammtheit — einen ideellen Organismus — aus vielen
untergeordneten Organismen beſtehend, ſich darleben kann.
Eine Bemerkung, welche, um den höhern — die einzelnen
Menſchen insgeſammt einbegreifenden ideellen Organismus
der Menſchheit zu erfaſſen und zu verſtehen ſehr beachtet
zu werden verdient. Man ſtudire nur die Geſchichte eines
Bienenſtaates, die Weisheit darin herrſchender Anordnun¬
gen, das Heranziehen der Königin, das Umbringen der

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0141" n="125"/>
und in einem wahren auf Erfüllung gemein&#x017F;amer Zwecke<lb/>
gegründeten Vereinleben, das Vorbild der nur im Men&#x017F;chen<lb/>
er&#x017F;t wirklich werdenden Verbindung Vieler zum Staate ab¬<lb/>
gibt. Alles &#x017F;chwankt indeß immer noch zwi&#x017F;chen unbedingter<lb/>
Nothwendigkeit und geringer Willkür &#x017F;o &#x017F;ehr hin und her,<lb/>
&#x017F;elb&#x017F;t in dem Lebenkrei&#x017F;e der &#x017F;cheinbar intelligent&#x017F;ten Ge¬<lb/>
&#x017F;chöpfe der niedern Kla&#x017F;&#x017F;en die&#x017F;er Reihe (man denke nur<lb/>
an den Staat der Amei&#x017F;en und Bienen), daß dem Indi¬<lb/>
viduum kaum noch Ahnungen einer be&#x017F;ondern p&#x017F;ychi&#x017F;chen<lb/>
Spontaneität zuzuerkennen &#x017F;ind. Dafür &#x017F;ind jedoch Er¬<lb/>
&#x017F;cheinungen des Vereinlebens auf die&#x017F;er Stufe p&#x017F;ychologi&#x017F;ch<lb/>
&#x017F;ehr lehrreich, indem &#x017F;ich an ihnen be&#x017F;onders deutlich er¬<lb/>
kennen läßt, daß eine &#x017F;ehr be&#x017F;timmte, und auch in mancher<lb/>
Beziehung freier gewordne Individualität der Idee <hi rendition="#g">in<lb/>
einer Vielheit von We&#x017F;en</hi>, &#x017F;ich &#x017F;ehr ent&#x017F;chieden dar¬<lb/>
leben kann, während alle <hi rendition="#g">die be&#x017F;ondern Glieder</hi> die&#x017F;er<lb/>
Vielheit <hi rendition="#g">eine weit &#x017F;chwächere p&#x017F;ychi&#x017F;che Entwick¬<lb/>
lung verrathen</hi>. Die Idee <hi rendition="#g">der Gattung</hi>, von welcher<lb/>
&#x017F;chon früher die Rede war, macht &#x017F;ich nirgends mehr als<lb/>
in &#x017F;olchen Vorgängen, als ein organi&#x017F;ches Ganzes, der<lb/>
Idee des Individuums gegenüber, geltend. Nirgends be&#x017F;&#x017F;er<lb/>
als hier kann man &#x017F;ich daher auch darüber ver&#x017F;tändigen,<lb/>
wie es keinesweges Bedingung &#x017F;ei, daß eine Idee &#x017F;ich<lb/>
einzig und allein <hi rendition="#g">durch das Einzelne</hi>, was wir ge¬<lb/>
meinhin einen Organismus &#x2014; einen realen Organismus &#x2014;<lb/>
nennen, darleben mü&#x017F;&#x017F;e, &#x017F;ondern daß &#x017F;ehr be&#x017F;timmte Fälle<lb/>
und in Menge, vorkommen, wo eine Idee nur durch eine<lb/>
Ge&#x017F;ammtheit &#x2014; einen ideellen Organismus &#x2014; aus vielen<lb/>
untergeordneten Organismen be&#x017F;tehend, &#x017F;ich darleben kann.<lb/>
Eine Bemerkung, welche, um den höhern &#x2014; die einzelnen<lb/>
Men&#x017F;chen insge&#x017F;ammt einbegreifenden ideellen Organismus<lb/>
der Men&#x017F;chheit zu erfa&#x017F;&#x017F;en und zu ver&#x017F;tehen &#x017F;ehr beachtet<lb/>
zu werden verdient. Man &#x017F;tudire nur die Ge&#x017F;chichte eines<lb/>
Bienen&#x017F;taates, die Weisheit darin herr&#x017F;chender Anordnun¬<lb/>
gen, das Heranziehen der Königin, das Umbringen der<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[125/0141] und in einem wahren auf Erfüllung gemeinſamer Zwecke gegründeten Vereinleben, das Vorbild der nur im Menſchen erſt wirklich werdenden Verbindung Vieler zum Staate ab¬ gibt. Alles ſchwankt indeß immer noch zwiſchen unbedingter Nothwendigkeit und geringer Willkür ſo ſehr hin und her, ſelbſt in dem Lebenkreiſe der ſcheinbar intelligentſten Ge¬ ſchöpfe der niedern Klaſſen dieſer Reihe (man denke nur an den Staat der Ameiſen und Bienen), daß dem Indi¬ viduum kaum noch Ahnungen einer beſondern pſychiſchen Spontaneität zuzuerkennen ſind. Dafür ſind jedoch Er¬ ſcheinungen des Vereinlebens auf dieſer Stufe pſychologiſch ſehr lehrreich, indem ſich an ihnen beſonders deutlich er¬ kennen läßt, daß eine ſehr beſtimmte, und auch in mancher Beziehung freier gewordne Individualität der Idee in einer Vielheit von Weſen, ſich ſehr entſchieden dar¬ leben kann, während alle die beſondern Glieder dieſer Vielheit eine weit ſchwächere pſychiſche Entwick¬ lung verrathen. Die Idee der Gattung, von welcher ſchon früher die Rede war, macht ſich nirgends mehr als in ſolchen Vorgängen, als ein organiſches Ganzes, der Idee des Individuums gegenüber, geltend. Nirgends beſſer als hier kann man ſich daher auch darüber verſtändigen, wie es keinesweges Bedingung ſei, daß eine Idee ſich einzig und allein durch das Einzelne, was wir ge¬ meinhin einen Organismus — einen realen Organismus — nennen, darleben müſſe, ſondern daß ſehr beſtimmte Fälle und in Menge, vorkommen, wo eine Idee nur durch eine Geſammtheit — einen ideellen Organismus — aus vielen untergeordneten Organismen beſtehend, ſich darleben kann. Eine Bemerkung, welche, um den höhern — die einzelnen Menſchen insgeſammt einbegreifenden ideellen Organismus der Menſchheit zu erfaſſen und zu verſtehen ſehr beachtet zu werden verdient. Man ſtudire nur die Geſchichte eines Bienenſtaates, die Weisheit darin herrſchender Anordnun¬ gen, das Heranziehen der Königin, das Umbringen der

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/carus_psyche_1846
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/carus_psyche_1846/141
Zitationshilfe: Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846, S. 125. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_psyche_1846/141>, abgerufen am 25.11.2024.