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Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846.

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nur in einer einzigen Aeußerung des Geschöpfs eine
größere innere Spontaneität sich verräth, als wenn
irgend eine merkwürdige aber ganz bewußtlose, mehr rein
organische Thätigkeit, z. B. der Bau irgend eines Kunst¬
werkes, ein künstlicher Zellen- oder Netz- oder Nestbau,
mit Nothwendigkeit immer auf dieselbe Weise geübt wird.
Das letztere wird meistens ganz organisch, oder, wie man
oft fälschlich sich auszudrücken pflegt, "mechanisch" hervor¬
treten. So bauen die Larven vieler Wasserinsekten sich
aus Sand oder Holzstückchen eine künstliche Röhre, eine
Art Hautskelet, in welchem sie ihre Reife und Metamor¬
phose erwarten, und diese Bildung geschieht mit derselben
Nothwendigkeit, mit welcher in Würmern, wie in der Ser¬
pula, eine Kalkröhre um das Thier aus abgesondertem
Kalksaft unfreiwillig anschießt, oder das Hautskelet der
Krebse sich wachsend erneut, oder eine verlorne Gliedmaße
in dem Thiere sich ersetzt. Man könnte sagen, bei jenen
künstlichen kleinen Bauwerken bethätige sich nur ein Schein¬
bewußtsein
; und wirklich es ist oft schwer die Gränze
zu ziehen, wo hier das Wachsen, das rein organische Bil¬
den aufhört, und wo das künstliche Bilden, der Kunsttrieb,
anfängt. Die beiden oben angegebenen charakteristischen
Momente für alles bewußtlose, hier immer noch so sehr
vorherrschende Seelenleben -- die Nothwendigkeit, und
das dem unbewußten Seelenleben eigne unmittelbare
Können
, ohne Einübung und ohne Gewöhnung -- sie
dürfen uns, wie gesagt, hier recht gut als Leitfaden und
Entscheidung dienen. Uebrigens wird, so wie das Thier¬
reich aus dem Wasser sich erhebt, die Sinneswahrnehmung
freier und mannichfaltiger, und auch dadurch muß das
innere Seelenleben reicher werden und das Bewußtsein hö¬
her sich entwickeln. Von besondrer Förderung ist es als¬
dann, daß hier fast durchgängig die Geschlechter frei sich
gegenüber treten und wechselseitig sich bedürfen, ja daß
hier zuerst eine höhere Geselligkeit von Vielen gleicher Art,

nur in einer einzigen Aeußerung des Geſchöpfs eine
größere innere Spontaneität ſich verräth, als wenn
irgend eine merkwürdige aber ganz bewußtloſe, mehr rein
organiſche Thätigkeit, z. B. der Bau irgend eines Kunſt¬
werkes, ein künſtlicher Zellen- oder Netz- oder Neſtbau,
mit Nothwendigkeit immer auf dieſelbe Weiſe geübt wird.
Das letztere wird meiſtens ganz organiſch, oder, wie man
oft fälſchlich ſich auszudrücken pflegt, „mechaniſch“ hervor¬
treten. So bauen die Larven vieler Waſſerinſekten ſich
aus Sand oder Holzſtückchen eine künſtliche Röhre, eine
Art Hautſkelet, in welchem ſie ihre Reife und Metamor¬
phoſe erwarten, und dieſe Bildung geſchieht mit derſelben
Nothwendigkeit, mit welcher in Würmern, wie in der Ser¬
pula, eine Kalkröhre um das Thier aus abgeſondertem
Kalkſaft unfreiwillig anſchießt, oder das Hautſkelet der
Krebſe ſich wachſend erneut, oder eine verlorne Gliedmaße
in dem Thiere ſich erſetzt. Man könnte ſagen, bei jenen
künſtlichen kleinen Bauwerken bethätige ſich nur ein Schein¬
bewußtſein
; und wirklich es iſt oft ſchwer die Gränze
zu ziehen, wo hier das Wachſen, das rein organiſche Bil¬
den aufhört, und wo das künſtliche Bilden, der Kunſttrieb,
anfängt. Die beiden oben angegebenen charakteriſtiſchen
Momente für alles bewußtloſe, hier immer noch ſo ſehr
vorherrſchende Seelenleben — die Nothwendigkeit, und
das dem unbewußten Seelenleben eigne unmittelbare
Können
, ohne Einübung und ohne Gewöhnung — ſie
dürfen uns, wie geſagt, hier recht gut als Leitfaden und
Entſcheidung dienen. Uebrigens wird, ſo wie das Thier¬
reich aus dem Waſſer ſich erhebt, die Sinneswahrnehmung
freier und mannichfaltiger, und auch dadurch muß das
innere Seelenleben reicher werden und das Bewußtſein hö¬
her ſich entwickeln. Von beſondrer Förderung iſt es als¬
dann, daß hier faſt durchgängig die Geſchlechter frei ſich
gegenüber treten und wechſelſeitig ſich bedürfen, ja daß
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[124/0140] nur in einer einzigen Aeußerung des Geſchöpfs eine größere innere Spontaneität ſich verräth, als wenn irgend eine merkwürdige aber ganz bewußtloſe, mehr rein organiſche Thätigkeit, z. B. der Bau irgend eines Kunſt¬ werkes, ein künſtlicher Zellen- oder Netz- oder Neſtbau, mit Nothwendigkeit immer auf dieſelbe Weiſe geübt wird. Das letztere wird meiſtens ganz organiſch, oder, wie man oft fälſchlich ſich auszudrücken pflegt, „mechaniſch“ hervor¬ treten. So bauen die Larven vieler Waſſerinſekten ſich aus Sand oder Holzſtückchen eine künſtliche Röhre, eine Art Hautſkelet, in welchem ſie ihre Reife und Metamor¬ phoſe erwarten, und dieſe Bildung geſchieht mit derſelben Nothwendigkeit, mit welcher in Würmern, wie in der Ser¬ pula, eine Kalkröhre um das Thier aus abgeſondertem Kalkſaft unfreiwillig anſchießt, oder das Hautſkelet der Krebſe ſich wachſend erneut, oder eine verlorne Gliedmaße in dem Thiere ſich erſetzt. Man könnte ſagen, bei jenen künſtlichen kleinen Bauwerken bethätige ſich nur ein Schein¬ bewußtſein; und wirklich es iſt oft ſchwer die Gränze zu ziehen, wo hier das Wachſen, das rein organiſche Bil¬ den aufhört, und wo das künſtliche Bilden, der Kunſttrieb, anfängt. Die beiden oben angegebenen charakteriſtiſchen Momente für alles bewußtloſe, hier immer noch ſo ſehr vorherrſchende Seelenleben — die Nothwendigkeit, und das dem unbewußten Seelenleben eigne unmittelbare Können, ohne Einübung und ohne Gewöhnung — ſie dürfen uns, wie geſagt, hier recht gut als Leitfaden und Entſcheidung dienen. Uebrigens wird, ſo wie das Thier¬ reich aus dem Waſſer ſich erhebt, die Sinneswahrnehmung freier und mannichfaltiger, und auch dadurch muß das innere Seelenleben reicher werden und das Bewußtſein hö¬ her ſich entwickeln. Von beſondrer Förderung iſt es als¬ dann, daß hier faſt durchgängig die Geſchlechter frei ſich gegenüber treten und wechſelſeitig ſich bedürfen, ja daß hier zuerſt eine höhere Geſelligkeit von Vielen gleicher Art,

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Zitationshilfe: Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846, S. 124. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_psyche_1846/140>, abgerufen am 23.11.2024.