Reihen von Vorstellungen auftritt, zum Urtheil über die Vorstellungen, ja zuletzt zur Erkenntniß dieses vor¬ stellenden Innern selbst. Aus diesem Allen wird man sonach sich abnehmen können, daß ohne jenes epime¬ theische Vermögen der Seele, ohne das, was wir im Unbe¬ wußten "Innerung" und im Bewußten "Erinnerung" nennen, das Bewußtsein eine Unmöglichkeit sein würde, und daß hierin somit in Wahrheit eine wichtige dritte Bedingung des Bewußtwerdens liege.
Bei schärferer Erwägung sind wir jedoch genöthigt diesen vorher erwogenen drei Bedingungen sogleich noch eine vierte hinzuzufügen. Nämlich es zeigt uns die Vergleichung des verschiednen Seelenlebens, und es sagt uns auch das eigne Urtheil, daß nicht bloß ein Vorhanden¬ sein mehrfacher Vorstellungen in bleibender Gegenwart über¬ haupt als Bedingung des Bewußtseins betrachtet werden könne, sondern daß diese Mannichfaltigkeit von Vorstellun¬ gen nothwendig ein gewisses Maß, einen gewissen Umfang erreichen, eine größere und reichere sein müsse, wenn es möglich sein soll, daß das Wunder des Bewußt¬ seins sich offenbare. Ein bestimmtes abgemessenes Maß kann natürlich hier nicht aufgestellt werden, aber daß ein solches erfordert werde, leidet durchaus keinen Zweifel. Im Kinde entwickelt sich das Bewußtsein allemal erst nach¬ dem ein gewisses Material in einem gewissen Umfang auf¬ gesammelt worden ist, und im Idioten mit verkrüppelter kleiner verkümmerter Hirnbildung, d.h. wo jene als orga¬ nische Bedingung einer Vorstellung anerkannte Masse der Urgebilde der Hirnsubstanz von Haus aus in zu geringer Menge entstanden war, wird eine hinreichende Mannich¬ faltigkeit von Vorstellungen nie möglich; und wenn auch da ein allgemeines Weltbewußtsein nicht fehlt, so wird doch die höhere Form des Selbstbewußtseins in solchem Falle nicht zur Offenbarung gelangen. Eben so wenig wird dies bei den Thieren überhaupt, und insbesondere bei den nie¬
Reihen von Vorſtellungen auftritt, zum Urtheil über die Vorſtellungen, ja zuletzt zur Erkenntniß dieſes vor¬ ſtellenden Innern ſelbſt. Aus dieſem Allen wird man ſonach ſich abnehmen können, daß ohne jenes epime¬ theïſche Vermögen der Seele, ohne das, was wir im Unbe¬ wußten „Innerung” und im Bewußten „Erinnerung” nennen, das Bewußtſein eine Unmöglichkeit ſein würde, und daß hierin ſomit in Wahrheit eine wichtige dritte Bedingung des Bewußtwerdens liege.
Bei ſchärferer Erwägung ſind wir jedoch genöthigt dieſen vorher erwogenen drei Bedingungen ſogleich noch eine vierte hinzuzufügen. Nämlich es zeigt uns die Vergleichung des verſchiednen Seelenlebens, und es ſagt uns auch das eigne Urtheil, daß nicht bloß ein Vorhanden¬ ſein mehrfacher Vorſtellungen in bleibender Gegenwart über¬ haupt als Bedingung des Bewußtſeins betrachtet werden könne, ſondern daß dieſe Mannichfaltigkeit von Vorſtellun¬ gen nothwendig ein gewiſſes Maß, einen gewiſſen Umfang erreichen, eine größere und reichere ſein müſſe, wenn es möglich ſein ſoll, daß das Wunder des Bewußt¬ ſeins ſich offenbare. Ein beſtimmtes abgemeſſenes Maß kann natürlich hier nicht aufgeſtellt werden, aber daß ein ſolches erfordert werde, leidet durchaus keinen Zweifel. Im Kinde entwickelt ſich das Bewußtſein allemal erſt nach¬ dem ein gewiſſes Material in einem gewiſſen Umfang auf¬ geſammelt worden iſt, und im Idioten mit verkrüppelter kleiner verkümmerter Hirnbildung, d.h. wo jene als orga¬ niſche Bedingung einer Vorſtellung anerkannte Maſſe der Urgebilde der Hirnſubſtanz von Haus aus in zu geringer Menge entſtanden war, wird eine hinreichende Mannich¬ faltigkeit von Vorſtellungen nie möglich; und wenn auch da ein allgemeines Weltbewußtſein nicht fehlt, ſo wird doch die höhere Form des Selbſtbewußtſeins in ſolchem Falle nicht zur Offenbarung gelangen. Eben ſo wenig wird dies bei den Thieren überhaupt, und insbeſondere bei den nie¬
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0124"n="108"/>
Reihen von Vorſtellungen auftritt, zum <hirendition="#g">Urtheil</hi> über die<lb/>
Vorſtellungen, ja zuletzt <hirendition="#g">zur Erkenntniß dieſes vor¬<lb/>ſtellenden Innern ſelbſt</hi>. Aus dieſem Allen wird<lb/>
man ſonach ſich abnehmen können, daß ohne jenes epime¬<lb/>
the<hirendition="#aq">ï</hi>ſche Vermögen der Seele, ohne das, was wir im Unbe¬<lb/>
wußten „Innerung” und im Bewußten „Erinnerung” nennen,<lb/>
das Bewußtſein eine Unmöglichkeit ſein würde, und daß<lb/>
hierin ſomit in Wahrheit eine wichtige <hirendition="#g">dritte Bedingung</hi><lb/>
des Bewußtwerdens liege.</p><lb/><p>Bei ſchärferer Erwägung ſind wir jedoch genöthigt<lb/>
dieſen vorher erwogenen drei Bedingungen ſogleich noch<lb/><hirendition="#g">eine vierte</hi> hinzuzufügen. Nämlich es zeigt uns die<lb/>
Vergleichung des verſchiednen Seelenlebens, und es ſagt<lb/>
uns auch das eigne Urtheil, daß nicht bloß ein Vorhanden¬<lb/>ſein mehrfacher Vorſtellungen in bleibender Gegenwart über¬<lb/>
haupt als Bedingung des Bewußtſeins betrachtet werden<lb/>
könne, ſondern daß dieſe Mannichfaltigkeit von Vorſtellun¬<lb/>
gen nothwendig ein gewiſſes Maß, einen gewiſſen Umfang<lb/>
erreichen, <hirendition="#g">eine größere und reichere ſein müſſe</hi>,<lb/>
wenn es möglich ſein ſoll, daß das Wunder des Bewußt¬<lb/>ſeins ſich offenbare. <hirendition="#g">Ein beſtimmtes abgemeſſenes</hi><lb/>
Maß kann natürlich hier nicht aufgeſtellt werden, aber daß<lb/>
ein ſolches erfordert werde, leidet durchaus keinen Zweifel.<lb/>
Im Kinde entwickelt ſich das Bewußtſein allemal erſt nach¬<lb/>
dem ein gewiſſes Material in einem gewiſſen Umfang auf¬<lb/>
geſammelt worden iſt, und im Idioten mit verkrüppelter<lb/>
kleiner verkümmerter Hirnbildung, d.h. wo jene als orga¬<lb/>
niſche Bedingung einer Vorſtellung anerkannte Maſſe der<lb/>
Urgebilde der Hirnſubſtanz von Haus aus in zu geringer<lb/>
Menge entſtanden war, wird eine hinreichende Mannich¬<lb/>
faltigkeit von Vorſtellungen nie möglich; und wenn auch<lb/>
da ein allgemeines Weltbewußtſein nicht fehlt, ſo wird doch<lb/>
die höhere Form des Selbſtbewußtſeins in ſolchem Falle<lb/>
nicht zur Offenbarung gelangen. Eben ſo wenig wird dies<lb/>
bei den Thieren überhaupt, und insbeſondere bei den nie¬<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[108/0124]
Reihen von Vorſtellungen auftritt, zum Urtheil über die
Vorſtellungen, ja zuletzt zur Erkenntniß dieſes vor¬
ſtellenden Innern ſelbſt. Aus dieſem Allen wird
man ſonach ſich abnehmen können, daß ohne jenes epime¬
theïſche Vermögen der Seele, ohne das, was wir im Unbe¬
wußten „Innerung” und im Bewußten „Erinnerung” nennen,
das Bewußtſein eine Unmöglichkeit ſein würde, und daß
hierin ſomit in Wahrheit eine wichtige dritte Bedingung
des Bewußtwerdens liege.
Bei ſchärferer Erwägung ſind wir jedoch genöthigt
dieſen vorher erwogenen drei Bedingungen ſogleich noch
eine vierte hinzuzufügen. Nämlich es zeigt uns die
Vergleichung des verſchiednen Seelenlebens, und es ſagt
uns auch das eigne Urtheil, daß nicht bloß ein Vorhanden¬
ſein mehrfacher Vorſtellungen in bleibender Gegenwart über¬
haupt als Bedingung des Bewußtſeins betrachtet werden
könne, ſondern daß dieſe Mannichfaltigkeit von Vorſtellun¬
gen nothwendig ein gewiſſes Maß, einen gewiſſen Umfang
erreichen, eine größere und reichere ſein müſſe,
wenn es möglich ſein ſoll, daß das Wunder des Bewußt¬
ſeins ſich offenbare. Ein beſtimmtes abgemeſſenes
Maß kann natürlich hier nicht aufgeſtellt werden, aber daß
ein ſolches erfordert werde, leidet durchaus keinen Zweifel.
Im Kinde entwickelt ſich das Bewußtſein allemal erſt nach¬
dem ein gewiſſes Material in einem gewiſſen Umfang auf¬
geſammelt worden iſt, und im Idioten mit verkrüppelter
kleiner verkümmerter Hirnbildung, d.h. wo jene als orga¬
niſche Bedingung einer Vorſtellung anerkannte Maſſe der
Urgebilde der Hirnſubſtanz von Haus aus in zu geringer
Menge entſtanden war, wird eine hinreichende Mannich¬
faltigkeit von Vorſtellungen nie möglich; und wenn auch
da ein allgemeines Weltbewußtſein nicht fehlt, ſo wird doch
die höhere Form des Selbſtbewußtſeins in ſolchem Falle
nicht zur Offenbarung gelangen. Eben ſo wenig wird dies
bei den Thieren überhaupt, und insbeſondere bei den nie¬
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846, S. 108. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_psyche_1846/124>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.