Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846.

Bild:
<< vorherige Seite

Reihen von Vorstellungen auftritt, zum Urtheil über die
Vorstellungen, ja zuletzt zur Erkenntniß dieses vor¬
stellenden Innern selbst
. Aus diesem Allen wird
man sonach sich abnehmen können, daß ohne jenes epime¬
theische Vermögen der Seele, ohne das, was wir im Unbe¬
wußten "Innerung" und im Bewußten "Erinnerung" nennen,
das Bewußtsein eine Unmöglichkeit sein würde, und daß
hierin somit in Wahrheit eine wichtige dritte Bedingung
des Bewußtwerdens liege.

Bei schärferer Erwägung sind wir jedoch genöthigt
diesen vorher erwogenen drei Bedingungen sogleich noch
eine vierte hinzuzufügen. Nämlich es zeigt uns die
Vergleichung des verschiednen Seelenlebens, und es sagt
uns auch das eigne Urtheil, daß nicht bloß ein Vorhanden¬
sein mehrfacher Vorstellungen in bleibender Gegenwart über¬
haupt als Bedingung des Bewußtseins betrachtet werden
könne, sondern daß diese Mannichfaltigkeit von Vorstellun¬
gen nothwendig ein gewisses Maß, einen gewissen Umfang
erreichen, eine größere und reichere sein müsse,
wenn es möglich sein soll, daß das Wunder des Bewußt¬
seins sich offenbare. Ein bestimmtes abgemessenes
Maß kann natürlich hier nicht aufgestellt werden, aber daß
ein solches erfordert werde, leidet durchaus keinen Zweifel.
Im Kinde entwickelt sich das Bewußtsein allemal erst nach¬
dem ein gewisses Material in einem gewissen Umfang auf¬
gesammelt worden ist, und im Idioten mit verkrüppelter
kleiner verkümmerter Hirnbildung, d.h. wo jene als orga¬
nische Bedingung einer Vorstellung anerkannte Masse der
Urgebilde der Hirnsubstanz von Haus aus in zu geringer
Menge entstanden war, wird eine hinreichende Mannich¬
faltigkeit von Vorstellungen nie möglich; und wenn auch
da ein allgemeines Weltbewußtsein nicht fehlt, so wird doch
die höhere Form des Selbstbewußtseins in solchem Falle
nicht zur Offenbarung gelangen. Eben so wenig wird dies
bei den Thieren überhaupt, und insbesondere bei den nie¬

Reihen von Vorſtellungen auftritt, zum Urtheil über die
Vorſtellungen, ja zuletzt zur Erkenntniß dieſes vor¬
ſtellenden Innern ſelbſt
. Aus dieſem Allen wird
man ſonach ſich abnehmen können, daß ohne jenes epime¬
theïſche Vermögen der Seele, ohne das, was wir im Unbe¬
wußten „Innerung” und im Bewußten „Erinnerung” nennen,
das Bewußtſein eine Unmöglichkeit ſein würde, und daß
hierin ſomit in Wahrheit eine wichtige dritte Bedingung
des Bewußtwerdens liege.

Bei ſchärferer Erwägung ſind wir jedoch genöthigt
dieſen vorher erwogenen drei Bedingungen ſogleich noch
eine vierte hinzuzufügen. Nämlich es zeigt uns die
Vergleichung des verſchiednen Seelenlebens, und es ſagt
uns auch das eigne Urtheil, daß nicht bloß ein Vorhanden¬
ſein mehrfacher Vorſtellungen in bleibender Gegenwart über¬
haupt als Bedingung des Bewußtſeins betrachtet werden
könne, ſondern daß dieſe Mannichfaltigkeit von Vorſtellun¬
gen nothwendig ein gewiſſes Maß, einen gewiſſen Umfang
erreichen, eine größere und reichere ſein müſſe,
wenn es möglich ſein ſoll, daß das Wunder des Bewußt¬
ſeins ſich offenbare. Ein beſtimmtes abgemeſſenes
Maß kann natürlich hier nicht aufgeſtellt werden, aber daß
ein ſolches erfordert werde, leidet durchaus keinen Zweifel.
Im Kinde entwickelt ſich das Bewußtſein allemal erſt nach¬
dem ein gewiſſes Material in einem gewiſſen Umfang auf¬
geſammelt worden iſt, und im Idioten mit verkrüppelter
kleiner verkümmerter Hirnbildung, d.h. wo jene als orga¬
niſche Bedingung einer Vorſtellung anerkannte Maſſe der
Urgebilde der Hirnſubſtanz von Haus aus in zu geringer
Menge entſtanden war, wird eine hinreichende Mannich¬
faltigkeit von Vorſtellungen nie möglich; und wenn auch
da ein allgemeines Weltbewußtſein nicht fehlt, ſo wird doch
die höhere Form des Selbſtbewußtſeins in ſolchem Falle
nicht zur Offenbarung gelangen. Eben ſo wenig wird dies
bei den Thieren überhaupt, und insbeſondere bei den nie¬

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0124" n="108"/>
Reihen von Vor&#x017F;tellungen auftritt, zum <hi rendition="#g">Urtheil</hi> über die<lb/>
Vor&#x017F;tellungen, ja zuletzt <hi rendition="#g">zur Erkenntniß die&#x017F;es vor¬<lb/>
&#x017F;tellenden Innern &#x017F;elb&#x017F;t</hi>. Aus die&#x017F;em Allen wird<lb/>
man &#x017F;onach &#x017F;ich abnehmen können, daß ohne jenes epime¬<lb/>
the<hi rendition="#aq">ï</hi>&#x017F;che Vermögen der Seele, ohne das, was wir im Unbe¬<lb/>
wußten &#x201E;Innerung&#x201D; und im Bewußten &#x201E;Erinnerung&#x201D; nennen,<lb/>
das Bewußt&#x017F;ein eine Unmöglichkeit &#x017F;ein würde, und daß<lb/>
hierin &#x017F;omit in Wahrheit eine wichtige <hi rendition="#g">dritte Bedingung</hi><lb/>
des Bewußtwerdens liege.</p><lb/>
          <p>Bei &#x017F;chärferer Erwägung &#x017F;ind wir jedoch genöthigt<lb/>
die&#x017F;en vorher erwogenen drei Bedingungen &#x017F;ogleich noch<lb/><hi rendition="#g">eine vierte</hi> hinzuzufügen. Nämlich es zeigt uns die<lb/>
Vergleichung des ver&#x017F;chiednen Seelenlebens, und es &#x017F;agt<lb/>
uns auch das eigne Urtheil, daß nicht bloß ein Vorhanden¬<lb/>
&#x017F;ein mehrfacher Vor&#x017F;tellungen in bleibender Gegenwart über¬<lb/>
haupt als Bedingung des Bewußt&#x017F;eins betrachtet werden<lb/>
könne, &#x017F;ondern daß die&#x017F;e Mannichfaltigkeit von Vor&#x017F;tellun¬<lb/>
gen nothwendig ein gewi&#x017F;&#x017F;es Maß, einen gewi&#x017F;&#x017F;en Umfang<lb/>
erreichen, <hi rendition="#g">eine größere und reichere &#x017F;ein mü&#x017F;&#x017F;e</hi>,<lb/>
wenn es möglich &#x017F;ein &#x017F;oll, daß das Wunder des Bewußt¬<lb/>
&#x017F;eins &#x017F;ich offenbare. <hi rendition="#g">Ein be&#x017F;timmtes abgeme&#x017F;&#x017F;enes</hi><lb/>
Maß kann natürlich hier nicht aufge&#x017F;tellt werden, aber daß<lb/>
ein &#x017F;olches erfordert werde, leidet durchaus keinen Zweifel.<lb/>
Im Kinde entwickelt &#x017F;ich das Bewußt&#x017F;ein allemal er&#x017F;t nach¬<lb/>
dem ein gewi&#x017F;&#x017F;es Material in einem gewi&#x017F;&#x017F;en Umfang auf¬<lb/>
ge&#x017F;ammelt worden i&#x017F;t, und im Idioten mit verkrüppelter<lb/>
kleiner verkümmerter Hirnbildung, d.h. wo jene als orga¬<lb/>
ni&#x017F;che Bedingung einer Vor&#x017F;tellung anerkannte Ma&#x017F;&#x017F;e der<lb/>
Urgebilde der Hirn&#x017F;ub&#x017F;tanz von Haus aus in zu geringer<lb/>
Menge ent&#x017F;tanden war, wird eine hinreichende Mannich¬<lb/>
faltigkeit von Vor&#x017F;tellungen nie möglich; und wenn auch<lb/>
da ein allgemeines Weltbewußt&#x017F;ein nicht fehlt, &#x017F;o wird doch<lb/>
die höhere Form des Selb&#x017F;tbewußt&#x017F;eins in &#x017F;olchem Falle<lb/>
nicht zur Offenbarung gelangen. Eben &#x017F;o wenig wird dies<lb/>
bei den Thieren überhaupt, und insbe&#x017F;ondere bei den nie¬<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[108/0124] Reihen von Vorſtellungen auftritt, zum Urtheil über die Vorſtellungen, ja zuletzt zur Erkenntniß dieſes vor¬ ſtellenden Innern ſelbſt. Aus dieſem Allen wird man ſonach ſich abnehmen können, daß ohne jenes epime¬ theïſche Vermögen der Seele, ohne das, was wir im Unbe¬ wußten „Innerung” und im Bewußten „Erinnerung” nennen, das Bewußtſein eine Unmöglichkeit ſein würde, und daß hierin ſomit in Wahrheit eine wichtige dritte Bedingung des Bewußtwerdens liege. Bei ſchärferer Erwägung ſind wir jedoch genöthigt dieſen vorher erwogenen drei Bedingungen ſogleich noch eine vierte hinzuzufügen. Nämlich es zeigt uns die Vergleichung des verſchiednen Seelenlebens, und es ſagt uns auch das eigne Urtheil, daß nicht bloß ein Vorhanden¬ ſein mehrfacher Vorſtellungen in bleibender Gegenwart über¬ haupt als Bedingung des Bewußtſeins betrachtet werden könne, ſondern daß dieſe Mannichfaltigkeit von Vorſtellun¬ gen nothwendig ein gewiſſes Maß, einen gewiſſen Umfang erreichen, eine größere und reichere ſein müſſe, wenn es möglich ſein ſoll, daß das Wunder des Bewußt¬ ſeins ſich offenbare. Ein beſtimmtes abgemeſſenes Maß kann natürlich hier nicht aufgeſtellt werden, aber daß ein ſolches erfordert werde, leidet durchaus keinen Zweifel. Im Kinde entwickelt ſich das Bewußtſein allemal erſt nach¬ dem ein gewiſſes Material in einem gewiſſen Umfang auf¬ geſammelt worden iſt, und im Idioten mit verkrüppelter kleiner verkümmerter Hirnbildung, d.h. wo jene als orga¬ niſche Bedingung einer Vorſtellung anerkannte Maſſe der Urgebilde der Hirnſubſtanz von Haus aus in zu geringer Menge entſtanden war, wird eine hinreichende Mannich¬ faltigkeit von Vorſtellungen nie möglich; und wenn auch da ein allgemeines Weltbewußtſein nicht fehlt, ſo wird doch die höhere Form des Selbſtbewußtſeins in ſolchem Falle nicht zur Offenbarung gelangen. Eben ſo wenig wird dies bei den Thieren überhaupt, und insbeſondere bei den nie¬

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/carus_psyche_1846
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/carus_psyche_1846/124
Zitationshilfe: Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846, S. 108. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_psyche_1846/124>, abgerufen am 22.11.2024.