tung und Verstimmung veranlassen muß, wenn die eigentliche Bestimmung, der Zweck, auf welchen alles hinweist, gar nicht oder unvollkommen erreicht wird, so muß man wohl mehr der ältern Ansicht von dieser Krankheit beypflichten, wovon noch bey der Untersuchung der sogenannten nächsten Ursache weiter die Rede seyn wird. Uebrigens ist denn doch auch nicht zu läugnen, daß Unordnung der Menstruation, vorzüglich die zu häufige, oder zu seltne, oder unterdrückte Menstruation, ferner anderweitige Krankheiten der Geschlechts- theile, als: weißer Fluß (ein besonders häufiger Begleiter der Hysterie), Verhärtungen, Krämpfe im Uterus u. s. w. so wie abnormes Verhältniß des Geschlechtstriebes, gar nicht selten bey solchen Kranken wahrgenommen werden.
§. 309.
Wir kommen nun zur Erörterung des Wesens (der nächsten Ursache) der Hysterie und Bestimmung ihres Ver- hältnisses zur Hypochondrie, eine bey der Vielgestaltigkeit des Gegenstandes allerdings schwierige Aufgabe; demohner- achtet scheint uns in folgender Bestimmung das Wesentlichste aufgefaßt werden zu können, indem wir sagen, daß die Er- scheinungen der Hysterie zunächst bedingt werden: durch eine Verstimmung des Nervensystems, welche eine Folge ist des Mißverhältnisses zwischen all- gemeiner und geschlechtlicher Produktivität. Auf diesen Krankheitsgrund weisen auch die entfernten, sowohl disponirenden als Gelegenheitsursachen hin, denn alles, was Mißverhältnisse in der reproduktiven Thätigkeit erzeugt, und zugleich die Erregbarkeit des Nervensystems steigert, führt die hysterischen Beschwerden herbey; hierhin gehört: schwäch- liche, reitzbare, angeborene, oder durch luxuriöse Erziehung, zu zeitig angestrengte Geistesthätigkeit und sonstige unpassende Lebensweise erworbene Constitution; ferner unordentliche Diät (Köchinnen leiden deßhalb nicht selten an Hysterie), das in den höhern Ständen gewöhnliche Untereinandermischen von Thee, Kaffee, Backwerk, Chokolade u. s. w., dabey vieles Sitzen und Beschäftigung mit weiblichen Arbeiten, wodurch eben so wie durch beengende Kleider, Schnürbrüste u. s. w.
tung und Verſtimmung veranlaſſen muß, wenn die eigentliche Beſtimmung, der Zweck, auf welchen alles hinweiſt, gar nicht oder unvollkommen erreicht wird, ſo muß man wohl mehr der aͤltern Anſicht von dieſer Krankheit beypflichten, wovon noch bey der Unterſuchung der ſogenannten naͤchſten Urſache weiter die Rede ſeyn wird. Uebrigens iſt denn doch auch nicht zu laͤugnen, daß Unordnung der Menſtruation, vorzuͤglich die zu haͤufige, oder zu ſeltne, oder unterdruͤckte Menſtruation, ferner anderweitige Krankheiten der Geſchlechts- theile, als: weißer Fluß (ein beſonders haͤufiger Begleiter der Hyſterie), Verhaͤrtungen, Kraͤmpfe im Uterus u. ſ. w. ſo wie abnormes Verhaͤltniß des Geſchlechtstriebes, gar nicht ſelten bey ſolchen Kranken wahrgenommen werden.
§. 309.
Wir kommen nun zur Eroͤrterung des Weſens (der naͤchſten Urſache) der Hyſterie und Beſtimmung ihres Ver- haͤltniſſes zur Hypochondrie, eine bey der Vielgeſtaltigkeit des Gegenſtandes allerdings ſchwierige Aufgabe; demohner- achtet ſcheint uns in folgender Beſtimmung das Weſentlichſte aufgefaßt werden zu koͤnnen, indem wir ſagen, daß die Er- ſcheinungen der Hyſterie zunaͤchſt bedingt werden: durch eine Verſtimmung des Nervenſyſtems, welche eine Folge iſt des Mißverhaͤltniſſes zwiſchen all- gemeiner und geſchlechtlicher Produktivitaͤt. Auf dieſen Krankheitsgrund weiſen auch die entfernten, ſowohl disponirenden als Gelegenheitsurſachen hin, denn alles, was Mißverhaͤltniſſe in der reproduktiven Thaͤtigkeit erzeugt, und zugleich die Erregbarkeit des Nervenſyſtems ſteigert, fuͤhrt die hyſteriſchen Beſchwerden herbey; hierhin gehoͤrt: ſchwaͤch- liche, reitzbare, angeborene, oder durch luxurioͤſe Erziehung, zu zeitig angeſtrengte Geiſtesthaͤtigkeit und ſonſtige unpaſſende Lebensweiſe erworbene Conſtitution; ferner unordentliche Diaͤt (Koͤchinnen leiden deßhalb nicht ſelten an Hyſterie), das in den hoͤhern Staͤnden gewoͤhnliche Untereinandermiſchen von Thee, Kaffee, Backwerk, Chokolade u. ſ. w., dabey vieles Sitzen und Beſchaͤftigung mit weiblichen Arbeiten, wodurch eben ſo wie durch beengende Kleider, Schnuͤrbruͤſte u. ſ. w.
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tung und Verſtimmung veranlaſſen muß, wenn die eigentliche
Beſtimmung, der Zweck, auf welchen alles hinweiſt, gar
nicht oder unvollkommen erreicht wird, ſo muß man wohl
mehr der aͤltern Anſicht von dieſer Krankheit beypflichten,
wovon noch bey der Unterſuchung der ſogenannten naͤchſten
Urſache weiter die Rede ſeyn wird. Uebrigens iſt denn doch
auch nicht zu laͤugnen, daß Unordnung der Menſtruation,
vorzuͤglich die zu haͤufige, oder zu ſeltne, oder unterdruͤckte
Menſtruation, ferner anderweitige Krankheiten der Geſchlechts-
theile, als: weißer Fluß (ein beſonders haͤufiger Begleiter
der Hyſterie), Verhaͤrtungen, Kraͤmpfe im Uterus u. ſ. w.
ſo wie abnormes Verhaͤltniß des Geſchlechtstriebes, gar nicht
ſelten bey ſolchen Kranken wahrgenommen werden.
§. 309.
Wir kommen nun zur Eroͤrterung des Weſens (der
naͤchſten Urſache) der Hyſterie und Beſtimmung ihres Ver-
haͤltniſſes zur Hypochondrie, eine bey der Vielgeſtaltigkeit
des Gegenſtandes allerdings ſchwierige Aufgabe; demohner-
achtet ſcheint uns in folgender Beſtimmung das Weſentlichſte
aufgefaßt werden zu koͤnnen, indem wir ſagen, daß die Er-
ſcheinungen der Hyſterie zunaͤchſt bedingt werden: durch
eine Verſtimmung des Nervenſyſtems, welche
eine Folge iſt des Mißverhaͤltniſſes zwiſchen all-
gemeiner und geſchlechtlicher Produktivitaͤt. Auf
dieſen Krankheitsgrund weiſen auch die entfernten, ſowohl
disponirenden als Gelegenheitsurſachen hin, denn alles, was
Mißverhaͤltniſſe in der reproduktiven Thaͤtigkeit erzeugt, und
zugleich die Erregbarkeit des Nervenſyſtems ſteigert, fuͤhrt
die hyſteriſchen Beſchwerden herbey; hierhin gehoͤrt: ſchwaͤch-
liche, reitzbare, angeborene, oder durch luxurioͤſe Erziehung,
zu zeitig angeſtrengte Geiſtesthaͤtigkeit und ſonſtige unpaſſende
Lebensweiſe erworbene Conſtitution; ferner unordentliche Diaͤt
(Koͤchinnen leiden deßhalb nicht ſelten an Hyſterie), das in
den hoͤhern Staͤnden gewoͤhnliche Untereinandermiſchen von
Thee, Kaffee, Backwerk, Chokolade u. ſ. w., dabey vieles
Sitzen und Beſchaͤftigung mit weiblichen Arbeiten, wodurch
eben ſo wie durch beengende Kleider, Schnuͤrbruͤſte u. ſ. w.
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Carus, Carl Gustav: Lehrbuch der Gynäkologie. Bd. 1. Leipzig, 1820, S. 240. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_gynaekologie01_1820/260>, abgerufen am 22.11.2024.
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