deßhalb einen höchst widrigen Anblick gewährende Krankheit, welche in übermäßig hervorbrechendem, Verstand und Ge- wissen fast oder vollkommen überwältigendem Triebe zur Geschlechtslust sich zu erkennen giebt. Man bemerkt die- selbe bey jüngern und ältern Personen, vorzüglich sanguini- schen oder cholerischen Temperaments, mit kräftigem Körper, theils, obwohl seltner, noch in den Entwicklungsjahren und zuweilen mit chlorotischen Symptomen verbunden, theils wäh- rend der ganzen, jedoch vorzüglich während der spätern Pe- riode der Geschlechtsreife, ja sogar während der Schwanger- schaft, und es können füglich mehrere Grade dieses Uebels unterschieden werden. Erster Grad nämlich, die Geilheit (Salacitas), wo zwar noch nicht alles Schamgefühl verloren ist, aber theils das Aeußere des Körpers (das erhitzte Ge- sicht, die schwimmenden Augen, die starkgerötheten aufgewor- senen Lippen u. s. w.) die angeregte Sinnlichkeit offenbaret, theils kein Mittel, die Befriedigung zu erzwecken, verschmäht wird, wohin wir Putz, unzüchtige Kleidung und Reden vor- züglich rechnen, obgleich auch die Masturbation solchen Kran- ken sehr gewöhnlich ist.
§. 278.
Der zweyte Grad ist die eigentliche Melancholia ute- rina, indem die Kranke, welche die Ueberwältigung ihres bessern Selbst durch einen rohen gewaltsamen Trieb empfin- det, in Trübheit des Gemüths versinkt, ein stilles vor sich hin Starren eintritt, der Körper selbst leidet, abmagert, die Verdauung und der Schlaf gestört werden, demohnerachtet aber alle Gedanken auf Geschlechtsbefriedigung gerichtet sind, auch wohl schamlose Entblößungen und Anerbieten versucht werden, bey Annäherung männlicher Individuen aber, die innere Begier durch Unruhe, unstäte Blicke, Worte und Gebärden sich vorzüglich kund giebt. -- Der dritte Grad endlich verdient den Namen Mania; die Freiheit des Willens ist hier gänzlich aufgehoben, die Kranke wüthet, reißt sich die Kleidung ab, fällt Mannspersonen mit Raserey an, schreiet, die Ausleerun- gen erfolgen oft bewußtlos, und wenn durch solche Anstren- gungen die Kräfte erschöpft sind, folgt stilles Hinbrüten,
deßhalb einen hoͤchſt widrigen Anblick gewaͤhrende Krankheit, welche in uͤbermaͤßig hervorbrechendem, Verſtand und Ge- wiſſen faſt oder vollkommen uͤberwaͤltigendem Triebe zur Geſchlechtsluſt ſich zu erkennen giebt. Man bemerkt die- ſelbe bey juͤngern und aͤltern Perſonen, vorzuͤglich ſanguini- ſchen oder choleriſchen Temperaments, mit kraͤftigem Koͤrper, theils, obwohl ſeltner, noch in den Entwicklungsjahren und zuweilen mit chlorotiſchen Symptomen verbunden, theils waͤh- rend der ganzen, jedoch vorzuͤglich waͤhrend der ſpaͤtern Pe- riode der Geſchlechtsreife, ja ſogar waͤhrend der Schwanger- ſchaft, und es koͤnnen fuͤglich mehrere Grade dieſes Uebels unterſchieden werden. Erſter Grad naͤmlich, die Geilheit (Salacitas), wo zwar noch nicht alles Schamgefuͤhl verloren iſt, aber theils das Aeußere des Koͤrpers (das erhitzte Ge- ſicht, die ſchwimmenden Augen, die ſtarkgeroͤtheten aufgewor- ſenen Lippen u. ſ. w.) die angeregte Sinnlichkeit offenbaret, theils kein Mittel, die Befriedigung zu erzwecken, verſchmaͤht wird, wohin wir Putz, unzuͤchtige Kleidung und Reden vor- zuͤglich rechnen, obgleich auch die Maſturbation ſolchen Kran- ken ſehr gewoͤhnlich iſt.
§. 278.
Der zweyte Grad iſt die eigentliche Melancholia ute- rina, indem die Kranke, welche die Ueberwaͤltigung ihres beſſern Selbſt durch einen rohen gewaltſamen Trieb empfin- det, in Truͤbheit des Gemuͤths verſinkt, ein ſtilles vor ſich hin Starren eintritt, der Koͤrper ſelbſt leidet, abmagert, die Verdauung und der Schlaf geſtoͤrt werden, demohnerachtet aber alle Gedanken auf Geſchlechtsbefriedigung gerichtet ſind, auch wohl ſchamloſe Entbloͤßungen und Anerbieten verſucht werden, bey Annaͤherung maͤnnlicher Individuen aber, die innere Begier durch Unruhe, unſtaͤte Blicke, Worte und Gebaͤrden ſich vorzuͤglich kund giebt. — Der dritte Grad endlich verdient den Namen Mania; die Freiheit des Willens iſt hier gaͤnzlich aufgehoben, die Kranke wuͤthet, reißt ſich die Kleidung ab, faͤllt Mannsperſonen mit Raſerey an, ſchreiet, die Ausleerun- gen erfolgen oft bewußtlos, und wenn durch ſolche Anſtren- gungen die Kraͤfte erſchoͤpft ſind, folgt ſtilles Hinbruͤten,
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deßhalb einen hoͤchſt widrigen Anblick gewaͤhrende Krankheit,
welche in uͤbermaͤßig hervorbrechendem, Verſtand und Ge-
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Geſchlechtsluſt ſich zu erkennen giebt. Man bemerkt die-
ſelbe bey juͤngern und aͤltern Perſonen, vorzuͤglich ſanguini-
ſchen oder choleriſchen Temperaments, mit kraͤftigem Koͤrper,
theils, obwohl ſeltner, noch in den Entwicklungsjahren und
zuweilen mit chlorotiſchen Symptomen verbunden, theils waͤh-
rend der ganzen, jedoch vorzuͤglich waͤhrend der ſpaͤtern Pe-
riode der Geſchlechtsreife, ja ſogar waͤhrend der Schwanger-
ſchaft, und es koͤnnen fuͤglich mehrere Grade dieſes Uebels
unterſchieden werden. Erſter Grad naͤmlich, die Geilheit
(Salacitas), wo zwar noch nicht alles Schamgefuͤhl verloren
iſt, aber theils das Aeußere des Koͤrpers (das erhitzte Ge-
ſicht, die ſchwimmenden Augen, die ſtarkgeroͤtheten aufgewor-
ſenen Lippen u. ſ. w.) die angeregte Sinnlichkeit offenbaret,
theils kein Mittel, die Befriedigung zu erzwecken, verſchmaͤht
wird, wohin wir Putz, unzuͤchtige Kleidung und Reden vor-
zuͤglich rechnen, obgleich auch die Maſturbation ſolchen Kran-
ken ſehr gewoͤhnlich iſt.
§. 278.
Der zweyte Grad iſt die eigentliche Melancholia ute-
rina, indem die Kranke, welche die Ueberwaͤltigung ihres
beſſern Selbſt durch einen rohen gewaltſamen Trieb empfin-
det, in Truͤbheit des Gemuͤths verſinkt, ein ſtilles vor ſich
hin Starren eintritt, der Koͤrper ſelbſt leidet, abmagert, die
Verdauung und der Schlaf geſtoͤrt werden, demohnerachtet
aber alle Gedanken auf Geſchlechtsbefriedigung gerichtet ſind,
auch wohl ſchamloſe Entbloͤßungen und Anerbieten verſucht
werden, bey Annaͤherung maͤnnlicher Individuen aber, die innere
Begier durch Unruhe, unſtaͤte Blicke, Worte und Gebaͤrden ſich
vorzuͤglich kund giebt. — Der dritte Grad endlich verdient den
Namen Mania; die Freiheit des Willens iſt hier gaͤnzlich
aufgehoben, die Kranke wuͤthet, reißt ſich die Kleidung ab,
faͤllt Mannsperſonen mit Raſerey an, ſchreiet, die Ausleerun-
gen erfolgen oft bewußtlos, und wenn durch ſolche Anſtren-
gungen die Kraͤfte erſchoͤpft ſind, folgt ſtilles Hinbruͤten,
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Carus, Carl Gustav: Lehrbuch der Gynäkologie. Bd. 1. Leipzig, 1820, S. 217. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_gynaekologie01_1820/237>, abgerufen am 24.11.2024.
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