Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Carus, Carl Gustav: Lehrbuch der Gynäkologie. Bd. 1. Leipzig, 1820.

Bild:
<< vorherige Seite

nungen, so glauben wir weder zu Ausnahmen von übrigens
gültigen Naturgesetzen, noch zu einem mystisch verzierten
Dualismus, welcher den Geist hier etwas weiter aus der
Kapsel des Körpers hervorsehen läßt, unsere Zuflucht nehmen
zu müssen, sondern wir weisen nur wieder auf die obigen
Ansichten (§. 246 u. 47.) von Durchdringung des Einzelnen
durch das Ganze, von dem Menschenleben als integrirendem
Theil des Naturlebens zurück, und finden es mit dieser Ein-
heit, in welcher Alles sich wechselseitig bestimmend fortwirkt,
vollkommen übereinstimmend, daß unter zwey Bedingungen der
Wahrnehmungskreis der innersten menschlichen Einheit, d. i.
der Menschenseele, in Zeit und Raum beträchtlich erweitert
werden könne, nämlich: erstens wenn der Mensch der Natur
sich vollkommen hingiebt, gleichsam in ihr untergeht (in wel-
cher Hinsicht wir die wohlthätigen Instinkte bey Kranken, die
Ahnungen bevorstehender Naturereignisse u. s. w. *) betrachten);
zweytens wenn der Mensch die Natur geistig in sich auf-
nimmt, die Natur sich unterwirft, ohne dadurch Kraft, Frey-
heit und Klarheit des Geistes aufzugeben, sondern vielmehr
im erhöhten Besitzgefühl derselben (ein nur Wenigen, von den
Banden der irdischen Begehrungen Befreiten, eigenthümliches
Vermögen, welches das Volk gewöhnlich nur Heiligen, und in
einem gewissen Sinne sehr mit Recht zugeschrieben hat). -- Daß
übrigens hier, wenn von Krankheit die Rede ist, nur das
unter der ersten Bedingung entstandene Fernschauungs-
und Ahnungsvermögen gemeynt seyn kann, liegt am Tage.

§. 254.

Noch bleiben uns nun die krankhaften Erscheinungen
der Muskularthätigkeit und Reproduktion, durch abnorme Ner-
veneinwirkung veranlaßt, zu betrachten übrig. Was die ab-
norme Muskularthätigkeit betrifft, so kommen die Zufälle
derselben in den Entwicklungsperioden des weiblichen Ge-
schlechts vorzüglich bey an und für sich reitzbaren und
schwächlichen Subjekten in der Form von Lähmungen dann

*) Auf diese Weise sind ja eben auch die Vorgefühle der Thiere er-
klärbar.

nungen, ſo glauben wir weder zu Ausnahmen von uͤbrigens
guͤltigen Naturgeſetzen, noch zu einem myſtiſch verzierten
Dualismus, welcher den Geiſt hier etwas weiter aus der
Kapſel des Koͤrpers hervorſehen laͤßt, unſere Zuflucht nehmen
zu muͤſſen, ſondern wir weiſen nur wieder auf die obigen
Anſichten (§. 246 u. 47.) von Durchdringung des Einzelnen
durch das Ganze, von dem Menſchenleben als integrirendem
Theil des Naturlebens zuruͤck, und finden es mit dieſer Ein-
heit, in welcher Alles ſich wechſelſeitig beſtimmend fortwirkt,
vollkommen uͤbereinſtimmend, daß unter zwey Bedingungen der
Wahrnehmungskreis der innerſten menſchlichen Einheit, d. i.
der Menſchenſeele, in Zeit und Raum betraͤchtlich erweitert
werden koͤnne, naͤmlich: erſtens wenn der Menſch der Natur
ſich vollkommen hingiebt, gleichſam in ihr untergeht (in wel-
cher Hinſicht wir die wohlthaͤtigen Inſtinkte bey Kranken, die
Ahnungen bevorſtehender Naturereigniſſe u. ſ. w. *) betrachten);
zweytens wenn der Menſch die Natur geiſtig in ſich auf-
nimmt, die Natur ſich unterwirft, ohne dadurch Kraft, Frey-
heit und Klarheit des Geiſtes aufzugeben, ſondern vielmehr
im erhoͤhten Beſitzgefuͤhl derſelben (ein nur Wenigen, von den
Banden der irdiſchen Begehrungen Befreiten, eigenthuͤmliches
Vermoͤgen, welches das Volk gewoͤhnlich nur Heiligen, und in
einem gewiſſen Sinne ſehr mit Recht zugeſchrieben hat). — Daß
uͤbrigens hier, wenn von Krankheit die Rede iſt, nur das
unter der erſten Bedingung entſtandene Fernſchauungs-
und Ahnungsvermoͤgen gemeynt ſeyn kann, liegt am Tage.

§. 254.

Noch bleiben uns nun die krankhaften Erſcheinungen
der Muskularthaͤtigkeit und Reproduktion, durch abnorme Ner-
veneinwirkung veranlaßt, zu betrachten uͤbrig. Was die ab-
norme Muskularthaͤtigkeit betrifft, ſo kommen die Zufaͤlle
derſelben in den Entwicklungsperioden des weiblichen Ge-
ſchlechts vorzuͤglich bey an und fuͤr ſich reitzbaren und
ſchwaͤchlichen Subjekten in der Form von Laͤhmungen dann

*) Auf dieſe Weiſe ſind ja eben auch die Vorgefuͤhle der Thiere er-
klaͤrbar.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <div n="6">
                  <div n="7">
                    <div n="8">
                      <div n="9">
                        <p><pb facs="#f0214" n="194"/>
nungen, &#x017F;o glauben wir weder zu Ausnahmen von u&#x0364;brigens<lb/>
gu&#x0364;ltigen Naturge&#x017F;etzen, noch zu einem my&#x017F;ti&#x017F;ch verzierten<lb/>
Dualismus, welcher den Gei&#x017F;t hier etwas weiter aus der<lb/>
Kap&#x017F;el des Ko&#x0364;rpers hervor&#x017F;ehen la&#x0364;ßt, un&#x017F;ere Zuflucht nehmen<lb/>
zu mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en, &#x017F;ondern wir wei&#x017F;en nur wieder auf die obigen<lb/>
An&#x017F;ichten (§. 246 u. 47.) von Durchdringung des Einzelnen<lb/>
durch das Ganze, von dem Men&#x017F;chenleben als integrirendem<lb/>
Theil des Naturlebens zuru&#x0364;ck, und finden es mit die&#x017F;er Ein-<lb/>
heit, in welcher Alles &#x017F;ich wech&#x017F;el&#x017F;eitig be&#x017F;timmend fortwirkt,<lb/>
vollkommen u&#x0364;berein&#x017F;timmend, daß unter zwey Bedingungen der<lb/>
Wahrnehmungskreis der inner&#x017F;ten men&#x017F;chlichen Einheit, d. i.<lb/>
der Men&#x017F;chen&#x017F;eele, in Zeit und Raum betra&#x0364;chtlich erweitert<lb/>
werden ko&#x0364;nne, na&#x0364;mlich: er&#x017F;tens wenn der Men&#x017F;ch der Natur<lb/>
&#x017F;ich vollkommen hingiebt, gleich&#x017F;am in ihr untergeht (in wel-<lb/>
cher Hin&#x017F;icht wir die wohltha&#x0364;tigen In&#x017F;tinkte bey Kranken, die<lb/>
Ahnungen bevor&#x017F;tehender Naturereigni&#x017F;&#x017F;e u. &#x017F;. w. <note place="foot" n="*)">Auf die&#x017F;e Wei&#x017F;e &#x017F;ind ja eben auch die Vorgefu&#x0364;hle der Thiere er-<lb/>
kla&#x0364;rbar.</note> betrachten);<lb/>
zweytens wenn der Men&#x017F;ch die Natur gei&#x017F;tig in &#x017F;ich auf-<lb/>
nimmt, die Natur &#x017F;ich unterwirft, ohne dadurch Kraft, Frey-<lb/>
heit und Klarheit des Gei&#x017F;tes aufzugeben, &#x017F;ondern vielmehr<lb/>
im erho&#x0364;hten Be&#x017F;itzgefu&#x0364;hl der&#x017F;elben (ein nur Wenigen, von den<lb/>
Banden der irdi&#x017F;chen Begehrungen Befreiten, eigenthu&#x0364;mliches<lb/>
Vermo&#x0364;gen, welches das Volk gewo&#x0364;hnlich nur Heiligen, und in<lb/>
einem gewi&#x017F;&#x017F;en Sinne &#x017F;ehr mit Recht zuge&#x017F;chrieben hat). &#x2014; Daß<lb/>
u&#x0364;brigens hier, wenn von <hi rendition="#g">Krankheit</hi> die Rede i&#x017F;t, nur das<lb/>
unter der <hi rendition="#g">er&#x017F;ten Bedingung</hi> ent&#x017F;tandene Fern&#x017F;chauungs-<lb/>
und Ahnungsvermo&#x0364;gen gemeynt &#x017F;eyn kann, liegt am Tage.</p>
                      </div><lb/>
                      <div n="9">
                        <head>§. 254.</head><lb/>
                        <p>Noch bleiben uns nun die krankhaften Er&#x017F;cheinungen<lb/>
der Muskulartha&#x0364;tigkeit und Reproduktion, durch abnorme Ner-<lb/>
veneinwirkung veranlaßt, zu betrachten u&#x0364;brig. Was die ab-<lb/>
norme Muskulartha&#x0364;tigkeit betrifft, &#x017F;o kommen die Zufa&#x0364;lle<lb/>
der&#x017F;elben in den Entwicklungsperioden des weiblichen Ge-<lb/>
&#x017F;chlechts vorzu&#x0364;glich bey an und fu&#x0364;r &#x017F;ich reitzbaren und<lb/>
&#x017F;chwa&#x0364;chlichen Subjekten in der Form von La&#x0364;hmungen <hi rendition="#g">dann</hi><lb/></p>
                      </div>
                    </div>
                  </div>
                </div>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[194/0214] nungen, ſo glauben wir weder zu Ausnahmen von uͤbrigens guͤltigen Naturgeſetzen, noch zu einem myſtiſch verzierten Dualismus, welcher den Geiſt hier etwas weiter aus der Kapſel des Koͤrpers hervorſehen laͤßt, unſere Zuflucht nehmen zu muͤſſen, ſondern wir weiſen nur wieder auf die obigen Anſichten (§. 246 u. 47.) von Durchdringung des Einzelnen durch das Ganze, von dem Menſchenleben als integrirendem Theil des Naturlebens zuruͤck, und finden es mit dieſer Ein- heit, in welcher Alles ſich wechſelſeitig beſtimmend fortwirkt, vollkommen uͤbereinſtimmend, daß unter zwey Bedingungen der Wahrnehmungskreis der innerſten menſchlichen Einheit, d. i. der Menſchenſeele, in Zeit und Raum betraͤchtlich erweitert werden koͤnne, naͤmlich: erſtens wenn der Menſch der Natur ſich vollkommen hingiebt, gleichſam in ihr untergeht (in wel- cher Hinſicht wir die wohlthaͤtigen Inſtinkte bey Kranken, die Ahnungen bevorſtehender Naturereigniſſe u. ſ. w. *) betrachten); zweytens wenn der Menſch die Natur geiſtig in ſich auf- nimmt, die Natur ſich unterwirft, ohne dadurch Kraft, Frey- heit und Klarheit des Geiſtes aufzugeben, ſondern vielmehr im erhoͤhten Beſitzgefuͤhl derſelben (ein nur Wenigen, von den Banden der irdiſchen Begehrungen Befreiten, eigenthuͤmliches Vermoͤgen, welches das Volk gewoͤhnlich nur Heiligen, und in einem gewiſſen Sinne ſehr mit Recht zugeſchrieben hat). — Daß uͤbrigens hier, wenn von Krankheit die Rede iſt, nur das unter der erſten Bedingung entſtandene Fernſchauungs- und Ahnungsvermoͤgen gemeynt ſeyn kann, liegt am Tage. §. 254. Noch bleiben uns nun die krankhaften Erſcheinungen der Muskularthaͤtigkeit und Reproduktion, durch abnorme Ner- veneinwirkung veranlaßt, zu betrachten uͤbrig. Was die ab- norme Muskularthaͤtigkeit betrifft, ſo kommen die Zufaͤlle derſelben in den Entwicklungsperioden des weiblichen Ge- ſchlechts vorzuͤglich bey an und fuͤr ſich reitzbaren und ſchwaͤchlichen Subjekten in der Form von Laͤhmungen dann *) Auf dieſe Weiſe ſind ja eben auch die Vorgefuͤhle der Thiere er- klaͤrbar.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/carus_gynaekologie01_1820
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/carus_gynaekologie01_1820/214
Zitationshilfe: Carus, Carl Gustav: Lehrbuch der Gynäkologie. Bd. 1. Leipzig, 1820, S. 194. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_gynaekologie01_1820/214>, abgerufen am 22.12.2024.