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Carus, Carl Gustav: Lehrbuch der Gynäkologie. Bd. 1. Leipzig, 1820.

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was wir Wahrnehmen äußerer Gegenstände nennen, bekannt-
lich keineswegs ein Wahrnehmen der Dinge an sich, son-
dern das Wahrnehmen eines Bildes, welches die Phantasie
erzeugt, angeregt von den verschiedenartigen Reitzungen des
Körpers; und eines Bildes zwar, welches aus den Farben
gemalt ist, welche die einzelnen Sinnesformen darbieten, und
in welchem daher beym Mangel einzelner Sinnesformen auch
die Farben mangeln müssen, welche diesen mangelnden Sin-
nen entsprechen, so daß ein Blindgeborener daher wohl in
Tönen, nach Gefühls-, Geruchs- und Geschmacksempfindun-
gen Vorstellungen haben wird, aber nicht nach Farben und
Licht. So wie nun aber z. B. ein Mensch ohne Füße wohl
sich fortbewegen lernt, dieses Fortbewegen aber nie Gehen
genannt werden kann, so kann nun wohl der Mangel oder
die Unthätigkeit eines Sinnes, z. B. des Gesichts, durch
eine andere Wahrnehmung ersetzt werden, allein dieß ist nicht
Sehen zu nennen; und hier liegt nach unserm Dafürhalten
der Hauptknoten in dem Verständniß der fraglichen Erschei-
nungen.

§. 246.

Nämlich auch die innere, nicht unmittelbar von äußern
Erscheinungen angeregte Thätigkeit der Phantasie bildet in
den sinnlichen Formen, daher glauben wir einen lebhaft
gedachten Gegenstand zu sehen, wir glauben zu hören,
zu sehen u. s. w. im Traume, und doch sehen wir eigent-
lich nicht. So nun auch, wenn das unmittelbare, nicht
durch die einzelnen Sinnesformen erregte Gefühl eines äußern
Einflußes, dessen Stimmung unser Inneres mit durchdrungen
hat, wirklich zum Bewußtseyn gelangt, wird es doch ange-
schaut werden unter der Form der gewohnten Sinne, welches
man im gemeinen Leben sehr passend im Geiste sehen,
hören
u. s. w. nennt. Z. B. ein Mensch, welcher mit
plötzlich gelähmtem Gesicht und Gehör in einen kühlen grü-
nen Wald versetzt würde, und sich durchdrungen fühlte von
der frischen Natur, dem eigenen Duft der Blätter und der
erquickenden Kühle, dessen Phantasie würde angeregt werden,
wenn er früher oft an ähnlichen Orten gewesen wäre, sich den

was wir Wahrnehmen aͤußerer Gegenſtaͤnde nennen, bekannt-
lich keineswegs ein Wahrnehmen der Dinge an ſich, ſon-
dern das Wahrnehmen eines Bildes, welches die Phantaſie
erzeugt, angeregt von den verſchiedenartigen Reitzungen des
Koͤrpers; und eines Bildes zwar, welches aus den Farben
gemalt iſt, welche die einzelnen Sinnesformen darbieten, und
in welchem daher beym Mangel einzelner Sinnesformen auch
die Farben mangeln muͤſſen, welche dieſen mangelnden Sin-
nen entſprechen, ſo daß ein Blindgeborener daher wohl in
Toͤnen, nach Gefuͤhls-, Geruchs- und Geſchmacksempfindun-
gen Vorſtellungen haben wird, aber nicht nach Farben und
Licht. So wie nun aber z. B. ein Menſch ohne Fuͤße wohl
ſich fortbewegen lernt, dieſes Fortbewegen aber nie Gehen
genannt werden kann, ſo kann nun wohl der Mangel oder
die Unthaͤtigkeit eines Sinnes, z. B. des Geſichts, durch
eine andere Wahrnehmung erſetzt werden, allein dieß iſt nicht
Sehen zu nennen; und hier liegt nach unſerm Dafuͤrhalten
der Hauptknoten in dem Verſtaͤndniß der fraglichen Erſchei-
nungen.

§. 246.

Naͤmlich auch die innere, nicht unmittelbar von aͤußern
Erſcheinungen angeregte Thaͤtigkeit der Phantaſie bildet in
den ſinnlichen Formen, daher glauben wir einen lebhaft
gedachten Gegenſtand zu ſehen, wir glauben zu hoͤren,
zu ſehen u. ſ. w. im Traume, und doch ſehen wir eigent-
lich nicht. So nun auch, wenn das unmittelbare, nicht
durch die einzelnen Sinnesformen erregte Gefuͤhl eines aͤußern
Einflußes, deſſen Stimmung unſer Inneres mit durchdrungen
hat, wirklich zum Bewußtſeyn gelangt, wird es doch ange-
ſchaut werden unter der Form der gewohnten Sinne, welches
man im gemeinen Leben ſehr paſſend im Geiſte ſehen,
hoͤren
u. ſ. w. nennt. Z. B. ein Menſch, welcher mit
ploͤtzlich gelaͤhmtem Geſicht und Gehoͤr in einen kuͤhlen gruͤ-
nen Wald verſetzt wuͤrde, und ſich durchdrungen fuͤhlte von
der friſchen Natur, dem eigenen Duft der Blaͤtter und der
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wenn er fruͤher oft an aͤhnlichen Orten geweſen waͤre, ſich den

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[187/0207] was wir Wahrnehmen aͤußerer Gegenſtaͤnde nennen, bekannt- lich keineswegs ein Wahrnehmen der Dinge an ſich, ſon- dern das Wahrnehmen eines Bildes, welches die Phantaſie erzeugt, angeregt von den verſchiedenartigen Reitzungen des Koͤrpers; und eines Bildes zwar, welches aus den Farben gemalt iſt, welche die einzelnen Sinnesformen darbieten, und in welchem daher beym Mangel einzelner Sinnesformen auch die Farben mangeln muͤſſen, welche dieſen mangelnden Sin- nen entſprechen, ſo daß ein Blindgeborener daher wohl in Toͤnen, nach Gefuͤhls-, Geruchs- und Geſchmacksempfindun- gen Vorſtellungen haben wird, aber nicht nach Farben und Licht. So wie nun aber z. B. ein Menſch ohne Fuͤße wohl ſich fortbewegen lernt, dieſes Fortbewegen aber nie Gehen genannt werden kann, ſo kann nun wohl der Mangel oder die Unthaͤtigkeit eines Sinnes, z. B. des Geſichts, durch eine andere Wahrnehmung erſetzt werden, allein dieß iſt nicht Sehen zu nennen; und hier liegt nach unſerm Dafuͤrhalten der Hauptknoten in dem Verſtaͤndniß der fraglichen Erſchei- nungen. §. 246. Naͤmlich auch die innere, nicht unmittelbar von aͤußern Erſcheinungen angeregte Thaͤtigkeit der Phantaſie bildet in den ſinnlichen Formen, daher glauben wir einen lebhaft gedachten Gegenſtand zu ſehen, wir glauben zu hoͤren, zu ſehen u. ſ. w. im Traume, und doch ſehen wir eigent- lich nicht. So nun auch, wenn das unmittelbare, nicht durch die einzelnen Sinnesformen erregte Gefuͤhl eines aͤußern Einflußes, deſſen Stimmung unſer Inneres mit durchdrungen hat, wirklich zum Bewußtſeyn gelangt, wird es doch ange- ſchaut werden unter der Form der gewohnten Sinne, welches man im gemeinen Leben ſehr paſſend im Geiſte ſehen, hoͤren u. ſ. w. nennt. Z. B. ein Menſch, welcher mit ploͤtzlich gelaͤhmtem Geſicht und Gehoͤr in einen kuͤhlen gruͤ- nen Wald verſetzt wuͤrde, und ſich durchdrungen fuͤhlte von der friſchen Natur, dem eigenen Duft der Blaͤtter und der erquickenden Kuͤhle, deſſen Phantaſie wuͤrde angeregt werden, wenn er fruͤher oft an aͤhnlichen Orten geweſen waͤre, ſich den

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Zitationshilfe: Carus, Carl Gustav: Lehrbuch der Gynäkologie. Bd. 1. Leipzig, 1820, S. 187. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_gynaekologie01_1820/207>, abgerufen am 23.11.2024.