Welt ermangelte, und daher von einer Erscheinung leicht un- verhältnißmäßig, ja bis zum Aufgeben aller innern Freyheit angezogen würde. Mädchen dieser Art zeichnen sich vorzüg- lich aus durch einen zarten Körperbau, feine Haut, sprechende Gesichtszüge und vorzüglich ein äußerst lebendiges Auge, sie sind zu Fieberwegungen und Unordnungen in der Verdauungs- funktion geneigt, haben unruhigen Schlaf und lebhafte Träume. Bemerken diese Individuen nun (und sie fühlen es vermöge ihrer Reitzbarkeit früher und stärker, als gemeinhin geglaubt wird), daß man sie ihrer unvollkommnern physischen Ausbil- dung wegen bemitleidet, daß ihnen deßhalb wohl gar weni- ger Ansprüche auf künftiges ehliches Glück verstattet werden, so erwacht ihre Eitelkeit, sie wollen durch die gewaltsamsten Anstrengungen die Ansprüche auf Beachtung erzwingen, welche ihnen die Natur versagt zu haben scheint, und nur allzuleicht geschieht dieß dann auf Unkosten der Wahrheit, ja sie scheuen die heftigsten körperlichen Schmerzen nicht, wenn damit das Ziel, Aufmerksamkeit, ja Bewunderung zu erregen, erreicht werden kann, daher denn die Fälle, wo Personen dieser Art vorgaben, lange Zeit ohne alle Nahrungsmittel zu leben, und allerdings dabey nur sehr wenig genossen *), die Fälle, wo andere ungewöhnliche Dinge erdichtet wurden (z. B. verstellte Som- nambulen, oder das Schweitzermädchen, welches eine Natter im Leibe zu haben, und durch die Vagina mit Milch zu er- nähren vorgab), ja wo die Personen sogar die schmerzhafte- sten Krankheiten nachbilden, und chirurgische Operationen nicht scheuen, wie ein Fall beweiset, wo ein Mädchen sich Kiesel verschiedener Größe in die Harnblase einbrachte und sich den schmerzhaftesten Extraktionen der über die Natur dieser Blasensteine nicht wenig verwunderten Aerzte unterwarf **).
§. 237.
Aehnliche Ueberspannungen hingegen, wenn dabey das Gemüth auf innere ideale Gegenstände gerichtet ist, bringen,
*) S. Osiander über die Entwicklungskrankheiten. 1r Th. S. 188.
**) Man lese diesen sehr merkwürdigen von H. Klein mitgetheilten Fall in Harles Jahrbüchern der teutschen Medicin und Chirurgie. III. Bd. 2s Hft.
Welt ermangelte, und daher von einer Erſcheinung leicht un- verhaͤltnißmaͤßig, ja bis zum Aufgeben aller innern Freyheit angezogen wuͤrde. Maͤdchen dieſer Art zeichnen ſich vorzuͤg- lich aus durch einen zarten Koͤrperbau, feine Haut, ſprechende Geſichtszuͤge und vorzuͤglich ein aͤußerſt lebendiges Auge, ſie ſind zu Fieberwegungen und Unordnungen in der Verdauungs- funktion geneigt, haben unruhigen Schlaf und lebhafte Traͤume. Bemerken dieſe Individuen nun (und ſie fuͤhlen es vermoͤge ihrer Reitzbarkeit fruͤher und ſtaͤrker, als gemeinhin geglaubt wird), daß man ſie ihrer unvollkommnern phyſiſchen Ausbil- dung wegen bemitleidet, daß ihnen deßhalb wohl gar weni- ger Anſpruͤche auf kuͤnftiges ehliches Gluͤck verſtattet werden, ſo erwacht ihre Eitelkeit, ſie wollen durch die gewaltſamſten Anſtrengungen die Anſpruͤche auf Beachtung erzwingen, welche ihnen die Natur verſagt zu haben ſcheint, und nur allzuleicht geſchieht dieß dann auf Unkoſten der Wahrheit, ja ſie ſcheuen die heftigſten koͤrperlichen Schmerzen nicht, wenn damit das Ziel, Aufmerkſamkeit, ja Bewunderung zu erregen, erreicht werden kann, daher denn die Faͤlle, wo Perſonen dieſer Art vorgaben, lange Zeit ohne alle Nahrungsmittel zu leben, und allerdings dabey nur ſehr wenig genoſſen *), die Faͤlle, wo andere ungewoͤhnliche Dinge erdichtet wurden (z. B. verſtellte Som- nambulen, oder das Schweitzermaͤdchen, welches eine Natter im Leibe zu haben, und durch die Vagina mit Milch zu er- naͤhren vorgab), ja wo die Perſonen ſogar die ſchmerzhafte- ſten Krankheiten nachbilden, und chirurgiſche Operationen nicht ſcheuen, wie ein Fall beweiſet, wo ein Maͤdchen ſich Kieſel verſchiedener Groͤße in die Harnblaſe einbrachte und ſich den ſchmerzhafteſten Extraktionen der uͤber die Natur dieſer Blaſenſteine nicht wenig verwunderten Aerzte unterwarf **).
§. 237.
Aehnliche Ueberſpannungen hingegen, wenn dabey das Gemuͤth auf innere ideale Gegenſtaͤnde gerichtet iſt, bringen,
*) S. Oſiander uͤber die Entwicklungskrankheiten. 1r Th. S. 188.
**) Man leſe dieſen ſehr merkwuͤrdigen von H. Klein mitgetheilten Fall in Harles Jahrbuͤchern der teutſchen Medicin und Chirurgie. III. Bd. 2s Hft.
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Welt ermangelte, und daher von einer Erſcheinung leicht un-
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angezogen wuͤrde. Maͤdchen dieſer Art zeichnen ſich vorzuͤg-
lich aus durch einen zarten Koͤrperbau, feine Haut, ſprechende
Geſichtszuͤge und vorzuͤglich ein aͤußerſt lebendiges Auge, ſie
ſind zu Fieberwegungen und Unordnungen in der Verdauungs-
funktion geneigt, haben unruhigen Schlaf und lebhafte Traͤume.
Bemerken dieſe Individuen nun (und ſie fuͤhlen es vermoͤge
ihrer Reitzbarkeit fruͤher und ſtaͤrker, als gemeinhin geglaubt
wird), daß man ſie ihrer unvollkommnern phyſiſchen Ausbil-
dung wegen bemitleidet, daß ihnen deßhalb wohl gar weni-
ger Anſpruͤche auf kuͤnftiges ehliches Gluͤck verſtattet werden,
ſo erwacht ihre Eitelkeit, ſie wollen durch die gewaltſamſten
Anſtrengungen die Anſpruͤche auf Beachtung erzwingen, welche
ihnen die Natur verſagt zu haben ſcheint, und nur allzuleicht
geſchieht dieß dann auf Unkoſten der Wahrheit, ja ſie ſcheuen
die heftigſten koͤrperlichen Schmerzen nicht, wenn damit das
Ziel, Aufmerkſamkeit, ja Bewunderung zu erregen, erreicht
werden kann, daher denn die Faͤlle, wo Perſonen dieſer Art
vorgaben, lange Zeit ohne alle Nahrungsmittel zu leben, und
allerdings dabey nur ſehr wenig genoſſen *), die Faͤlle, wo andere
ungewoͤhnliche Dinge erdichtet wurden (z. B. verſtellte Som-
nambulen, oder das Schweitzermaͤdchen, welches eine Natter
im Leibe zu haben, und durch die Vagina mit Milch zu er-
naͤhren vorgab), ja wo die Perſonen ſogar die ſchmerzhafte-
ſten Krankheiten nachbilden, und chirurgiſche Operationen
nicht ſcheuen, wie ein Fall beweiſet, wo ein Maͤdchen ſich
Kieſel verſchiedener Groͤße in die Harnblaſe einbrachte und
ſich den ſchmerzhafteſten Extraktionen der uͤber die Natur dieſer
Blaſenſteine nicht wenig verwunderten Aerzte unterwarf **).
§. 237.
Aehnliche Ueberſpannungen hingegen, wenn dabey das
Gemuͤth auf innere ideale Gegenſtaͤnde gerichtet iſt, bringen,
*) S. Oſiander uͤber die Entwicklungskrankheiten. 1r Th. S. 188.
**) Man leſe dieſen ſehr merkwuͤrdigen von H. Klein mitgetheilten
Fall in Harles Jahrbuͤchern der teutſchen Medicin und Chirurgie.
III. Bd. 2s Hft.
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Carus, Carl Gustav: Lehrbuch der Gynäkologie. Bd. 1. Leipzig, 1820, S. 178. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_gynaekologie01_1820/198>, abgerufen am 25.11.2024.
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