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Dimitrie [Moldau, Woiwode], (Cantemir, Dimitrie): Geschichte des osmanischen Reichs nach seinem Anwachse und Abnehmen. Hamburg, 1745.

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Osmanische Geschichte
Müsülmanen als Freywillige unter dem Namen von Derwischen an, ohne ihnen
einigen Sold oder Gehalt von Lebensmitteln zu reichen; bloß in dem Namen
Gottes und im Vertrauen auf seinen göttlichen Beystand. Diese führet er
über das Meer nach Rhodostus, und von da zu Lande nach Adrianopel. Als
derselbe an die Stadt kommt: so ziehet er mit seinen Anhängern gerades Weges
nach Selims Tempel zu. Weil er hier das Volk antrifft, daß es eben zur Mit-
tagszeit in seinem Nemaß begriffen ist: so verrichtet er anfangs sein Gebet eben-
fals mit Bezeigung einer großen Andacht und eines großen Eifers; und hierauf
hält er eine Rede an das Volk. Er saget darinnen. Nachdem er vernommen,
daß man ein neues Kriegesheer gegen die Deutschen aufrichte: so habe er lange
bey sich überleget, was er wol zum Dienste des osmanischen Besten, nach Anlei-
tung der Gebote des Kurons, thun könne; und habe bey sich in der Stille un-
tersuchet, was doch die Ursachen so vielfältiger und großer Verluste seyn müßten,
"Ich schäme mich, Meister in dem Abece der Welten zu seyn:
"Dennoch aber schätze ich dieses Abece, das sonst wenig geachtet wird, sehr hoch;
"Denn in demselben ist die Uebereinkunft Jesus und Misris vereinbaret.
"Daher besitzet mein Wille weder etwas, noch mangelt es ihm an etwas*.
[Spaltenumbruch]
Außer diesen offenbaren Zeugnissen von Je-
sus, die in diesen Versen enthalten sind, ist
auch dasjenige würdig angeführet zu werden,
was ich wegen eben dieses Misri Efendis
aus dem Munde des Patriarchen Kallinikus
zu Constantinopel, gottseliger Gedächtniß,
erfahren habe. Als dieser noch Metropolit
zu Prusa war: so machte Misri Efendi ver-
traute Freundschaft mit demselben, und pflegte
ihn öfters zu besuchen. Einsmals, da er
zu dem Metropoliten kam, traf er ein griechi-
sches Buch auf dem Tische liegen an. Auf
seine Frage: was es für ein Buch sey?
wurde ihm zur Antwort gegeben: es sey
das Evangelium. Darauf sagte derselbe:
"O Metropolit! was ihr einmal durch die
"Gnade Gottes erlanget habt, das behaltet,
"so lange ihr lebet; denn das Evangelium,
"und Christus selbst, ist das Wort Gottes."
[Spaltenumbruch]
Ungeachtet nun die Türken von diesem allem
unter einander murmelten: so konnten sie doch
seinem Ruhme keinesweges schaden. Ja,
als die vorhin gedachten Verse dem Müfti
überreichet wurden, um zu entscheiden, ob sie
dem rechten Glauben gemäß, oder den Lehren
des Kurons entgegen seyen: so hielt derselbe
sein Urtheil zurück, und gab folgendes Fetwa,
oder diesen Ausspruch, davon; "Die Bedeu-
"tung und der Sinn derselben ist nieman-
"dem bekannt, als Gott und Misri."
Diesen Ausspruch, ungeachtet er von einem
Unglaubigen herrühret, halte ich für wahr,
und achte es für ungemein schwer, von dieses
Mannes tiefsinniger Wissenschaft eine voll-
ständige Auslegung zu machen. Indessen
wurden Misri Efendis Gedichte nach dieser
Erklärung des Müftis öffentlich ausgegeben,
und von allen Türken für rechtlehrig ange-

die
* [das ist: ich begehre nichts ernstlich; und dennoch mangelt mir nichts, was ich verlangen kann.]

Osmaniſche Geſchichte
Muͤſuͤlmanen als Freywillige unter dem Namen von Derwiſchen an, ohne ihnen
einigen Sold oder Gehalt von Lebensmitteln zu reichen; bloß in dem Namen
Gottes und im Vertrauen auf ſeinen goͤttlichen Beyſtand. Dieſe fuͤhret er
uͤber das Meer nach Rhodoſtus, und von da zu Lande nach Adrianopel. Als
derſelbe an die Stadt kommt: ſo ziehet er mit ſeinen Anhaͤngern gerades Weges
nach Selims Tempel zu. Weil er hier das Volk antrifft, daß es eben zur Mit-
tagszeit in ſeinem Nemaß begriffen iſt: ſo verrichtet er anfangs ſein Gebet eben-
fals mit Bezeigung einer großen Andacht und eines großen Eifers; und hierauf
haͤlt er eine Rede an das Volk. Er ſaget darinnen. Nachdem er vernommen,
daß man ein neues Kriegesheer gegen die Deutſchen aufrichte: ſo habe er lange
bey ſich uͤberleget, was er wol zum Dienſte des osmaniſchen Beſten, nach Anlei-
tung der Gebote des Kurons, thun koͤnne; und habe bey ſich in der Stille un-
terſuchet, was doch die Urſachen ſo vielfaͤltiger und großer Verluſte ſeyn muͤßten,
“Ich ſchaͤme mich, Meiſter in dem Abece der Welten zu ſeyn:
“Dennoch aber ſchaͤtze ich dieſes Abece, das ſonſt wenig geachtet wird, ſehr hoch;
“Denn in demſelben iſt die Uebereinkunft Jeſus und Misris vereinbaret.
“Daher beſitzet mein Wille weder etwas, noch mangelt es ihm an etwas*.
[Spaltenumbruch]
Außer dieſen offenbaren Zeugniſſen von Je-
ſus, die in dieſen Verſen enthalten ſind, iſt
auch dasjenige wuͤrdig angefuͤhret zu werden,
was ich wegen eben dieſes Misri Efendis
aus dem Munde des Patriarchen Kallinikus
zu Conſtantinopel, gottſeliger Gedaͤchtniß,
erfahren habe. Als dieſer noch Metropolit
zu Pruſa war: ſo machte Misri Efendi ver-
traute Freundſchaft mit demſelben, und pflegte
ihn oͤfters zu beſuchen. Einsmals, da er
zu dem Metropoliten kam, traf er ein griechi-
ſches Buch auf dem Tiſche liegen an. Auf
ſeine Frage: was es fuͤr ein Buch ſey?
wurde ihm zur Antwort gegeben: es ſey
das Evangelium. Darauf ſagte derſelbe:
“O Metropolit! was ihr einmal durch die
“Gnade Gottes erlanget habt, das behaltet,
“ſo lange ihr lebet; denn das Evangelium,
“und Chriſtus ſelbſt, iſt das Wort Gottes.„
[Spaltenumbruch]
Ungeachtet nun die Tuͤrken von dieſem allem
unter einander murmelten: ſo konnten ſie doch
ſeinem Ruhme keinesweges ſchaden. Ja,
als die vorhin gedachten Verſe dem Muͤfti
uͤberreichet wurden, um zu entſcheiden, ob ſie
dem rechten Glauben gemaͤß, oder den Lehren
des Kurons entgegen ſeyen: ſo hielt derſelbe
ſein Urtheil zuruͤck, und gab folgendes Fetwa,
oder dieſen Ausſpruch, davon; “Die Bedeu-
“tung und der Sinn derſelben iſt nieman-
“dem bekannt, als Gott und Misri.„
Dieſen Ausſpruch, ungeachtet er von einem
Unglaubigen herruͤhret, halte ich fuͤr wahr,
und achte es fuͤr ungemein ſchwer, von dieſes
Mannes tiefſinniger Wiſſenſchaft eine voll-
ſtaͤndige Auslegung zu machen. Indeſſen
wurden Misri Efendis Gedichte nach dieſer
Erklaͤrung des Muͤftis oͤffentlich ausgegeben,
und von allen Tuͤrken fuͤr rechtlehrig ange-

die
* [das iſt: ich begehre nichts ernſtlich; und dennoch mangelt mir nichts, was ich verlangen kann.]
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[638/0750] Osmaniſche Geſchichte Muͤſuͤlmanen als Freywillige unter dem Namen von Derwiſchen an, ohne ihnen einigen Sold oder Gehalt von Lebensmitteln zu reichen; bloß in dem Namen Gottes und im Vertrauen auf ſeinen goͤttlichen Beyſtand. Dieſe fuͤhret er uͤber das Meer nach Rhodoſtus, und von da zu Lande nach Adrianopel. Als derſelbe an die Stadt kommt: ſo ziehet er mit ſeinen Anhaͤngern gerades Weges nach Selims Tempel zu. Weil er hier das Volk antrifft, daß es eben zur Mit- tagszeit in ſeinem Nemaß begriffen iſt: ſo verrichtet er anfangs ſein Gebet eben- fals mit Bezeigung einer großen Andacht und eines großen Eifers; und hierauf haͤlt er eine Rede an das Volk. Er ſaget darinnen. Nachdem er vernommen, daß man ein neues Kriegesheer gegen die Deutſchen aufrichte: ſo habe er lange bey ſich uͤberleget, was er wol zum Dienſte des osmaniſchen Beſten, nach Anlei- tung der Gebote des Kurons, thun koͤnne; und habe bey ſich in der Stille un- terſuchet, was doch die Urſachen ſo vielfaͤltiger und großer Verluſte ſeyn muͤßten, die “Ich ſchaͤme mich, Meiſter in dem Abece der Welten zu ſeyn: “Dennoch aber ſchaͤtze ich dieſes Abece, das ſonſt wenig geachtet wird, ſehr hoch; “Denn in demſelben iſt die Uebereinkunft Jeſus und Misris vereinbaret. “Daher beſitzet mein Wille weder etwas, noch mangelt es ihm an etwas *. Außer dieſen offenbaren Zeugniſſen von Je- ſus, die in dieſen Verſen enthalten ſind, iſt auch dasjenige wuͤrdig angefuͤhret zu werden, was ich wegen eben dieſes Misri Efendis aus dem Munde des Patriarchen Kallinikus zu Conſtantinopel, gottſeliger Gedaͤchtniß, erfahren habe. Als dieſer noch Metropolit zu Pruſa war: ſo machte Misri Efendi ver- traute Freundſchaft mit demſelben, und pflegte ihn oͤfters zu beſuchen. Einsmals, da er zu dem Metropoliten kam, traf er ein griechi- ſches Buch auf dem Tiſche liegen an. Auf ſeine Frage: was es fuͤr ein Buch ſey? wurde ihm zur Antwort gegeben: es ſey das Evangelium. Darauf ſagte derſelbe: “O Metropolit! was ihr einmal durch die “Gnade Gottes erlanget habt, das behaltet, “ſo lange ihr lebet; denn das Evangelium, “und Chriſtus ſelbſt, iſt das Wort Gottes.„ Ungeachtet nun die Tuͤrken von dieſem allem unter einander murmelten: ſo konnten ſie doch ſeinem Ruhme keinesweges ſchaden. Ja, als die vorhin gedachten Verſe dem Muͤfti uͤberreichet wurden, um zu entſcheiden, ob ſie dem rechten Glauben gemaͤß, oder den Lehren des Kurons entgegen ſeyen: ſo hielt derſelbe ſein Urtheil zuruͤck, und gab folgendes Fetwa, oder dieſen Ausſpruch, davon; “Die Bedeu- “tung und der Sinn derſelben iſt nieman- “dem bekannt, als Gott und Misri.„ Dieſen Ausſpruch, ungeachtet er von einem Unglaubigen herruͤhret, halte ich fuͤr wahr, und achte es fuͤr ungemein ſchwer, von dieſes Mannes tiefſinniger Wiſſenſchaft eine voll- ſtaͤndige Auslegung zu machen. Indeſſen wurden Misri Efendis Gedichte nach dieſer Erklaͤrung des Muͤftis oͤffentlich ausgegeben, und von allen Tuͤrken fuͤr rechtlehrig ange- nom- * [das iſt: ich begehre nichts ernſtlich; und dennoch mangelt mir nichts, was ich verlangen kann.]

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Zitationshilfe: Dimitrie [Moldau, Woiwode], (Cantemir, Dimitrie): Geschichte des osmanischen Reichs nach seinem Anwachse und Abnehmen. Hamburg, 1745, S. 638. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/cantemir_geschichte_1745/750>, abgerufen am 25.11.2024.