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Dimitrie [Moldau, Woiwode], (Cantemir, Dimitrie): Geschichte des osmanischen Reichs nach seinem Anwachse und Abnehmen. Hamburg, 1745.

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Osmanische Geschichte
Geistlichen und Ordensleute, die sich zu Constantinopel gegenwärtig befanden,
bekamen Befehl, das Telaweti Kuron 124 alle Tage vierzigmal zu Ende zu brin-
gen, und damit vierzig Tage lang anzuhalten, um durch diese Gebeter die Ruhe
seiner Seele für ihn zu erbitten. Ferner ließ auch sein Sohn vor dem Dschami
einen Mihrab 125 aufrichten, und über dessen Grab einen großen marmornen
Türbe setzen, das noch bis auf den heutigen Tag von den Müsülmanen andäch-
tig verehret wird. Denn sie glaubten festiglich, daß derselbe ein großer Lieb-
ling des Himmels gewesen sey, weil er nicht allein sein Leben bey der Belagerung
von Schegetwar eingebüßet und also ein Schehid* geworden; sondern auch ein
Gaßi2* gewesen sey, indem zwo Städte unter der Anführung seines hinterblie-
benen Leichnams erobert und mit dem osmanischen Reiche vereiniget worden
seyen.

Sülejmans Ei-genschaften.
56.

Dieses war das Leben und die Regierung Sülejmans, eines Für-
sten von heldenmäßigem und unüberwindlichem Gemüthe, großer Tapferkeit
und Klugheit, und von solcher Geduld in Ertragung des Ungemachs (das ge-
[Spaltenumbruch]

124 Telaweti Kuron] Die Lesung des
ganzen Kurons, die gewöhnlicher Weise über
dem Grabe des Verstorbenen geschiehet; eben
wie bey uns* in diesem Falle der Psalter und
das neue Testament pflegen gelesen zu werden.
125 Mihrab] heißet sowol einen Altar,
als auch den südlichen Theil eines Dschami.
Von diesem Worte haben die Türken folgende
[Spaltenumbruch]
Geschichte. Ein gewisser Poet wurde von
seinen guten Bekannten damit aufgezogen,
daß er seine Beyschläferinn, ungeachtet sie
itzo bleich, bärtig und alt geworden sey,
doch noch immer liebe, und nicht die geringste
Verminderung seiner ehemaligen Liebesnei-
gung an sich verspüren lasse. Der Poet ver-
antwortete sich mit diesem Doppelverse.
Gjer Mestschid jikildise;
Nola Mihrab Jerinde.
[Spaltenumbruch]
Das ist: Obgleich der Mestschid (oder Tem-
pel) zerstöret ist; so ist doch der Mihrab (oder
Altar) noch in gutem Stande. Sobald seine
Feinde diesen Vers aus seinem Munde hören:
so ziehen sie ihn gleich vor den Richter, und
klagen ihn einer Gotteslästerung an. Denn
sie erklären die Verse so, als wenn er das
verfallene Angesicht seiner Beyschläferinn mit
einer Kirche, und denjenigen Theil ihres Lei-
bes, der von ihm zur Büßung seiner jugend-
[Spaltenumbruch]
lichen Lüste gebrauchet worden, mit einem
Altare verglichen hätte. Hierdurch wurde
der Richter dergestalt aufgebracht, daß er den
Poeten verdammte, seinen Kopf zu verlieren.
126 Nißam] Eine Gattung Gedichte,
die öfters, und sonderlich im Kuron, vor-
kommt, deswegen auch dieselbe für zierlicher
gehalten wird, als die andern.

wöhn-
* Märtirer.
2* Ueberwinder.
* Griechen.

Osmaniſche Geſchichte
Geiſtlichen und Ordensleute, die ſich zu Conſtantinopel gegenwaͤrtig befanden,
bekamen Befehl, das Telaweti Kuron 124 alle Tage vierzigmal zu Ende zu brin-
gen, und damit vierzig Tage lang anzuhalten, um durch dieſe Gebeter die Ruhe
ſeiner Seele fuͤr ihn zu erbitten. Ferner ließ auch ſein Sohn vor dem Dſchami
einen Mihrab 125 aufrichten, und uͤber deſſen Grab einen großen marmornen
Tuͤrbe ſetzen, das noch bis auf den heutigen Tag von den Muͤſuͤlmanen andaͤch-
tig verehret wird. Denn ſie glaubten feſtiglich, daß derſelbe ein großer Lieb-
ling des Himmels geweſen ſey, weil er nicht allein ſein Leben bey der Belagerung
von Schegetwar eingebuͤßet und alſo ein Schehid* geworden; ſondern auch ein
Gaßi2* geweſen ſey, indem zwo Staͤdte unter der Anfuͤhrung ſeines hinterblie-
benen Leichnams erobert und mit dem osmaniſchen Reiche vereiniget worden
ſeyen.

Suͤlejmans Ei-genſchaften.
56.

Dieſes war das Leben und die Regierung Suͤlejmans, eines Fuͤr-
ſten von heldenmaͤßigem und unuͤberwindlichem Gemuͤthe, großer Tapferkeit
und Klugheit, und von ſolcher Geduld in Ertragung des Ungemachs (das ge-
[Spaltenumbruch]

124 Telaweti Kuron] Die Leſung des
ganzen Kurons, die gewoͤhnlicher Weiſe uͤber
dem Grabe des Verſtorbenen geſchiehet; eben
wie bey uns* in dieſem Falle der Pſalter und
das neue Teſtament pflegen geleſen zu werden.
125 Mihrab] heißet ſowol einen Altar,
als auch den ſuͤdlichen Theil eines Dſchami.
Von dieſem Worte haben die Tuͤrken folgende
[Spaltenumbruch]
Geſchichte. Ein gewiſſer Poet wurde von
ſeinen guten Bekannten damit aufgezogen,
daß er ſeine Beyſchlaͤferinn, ungeachtet ſie
itzo bleich, baͤrtig und alt geworden ſey,
doch noch immer liebe, und nicht die geringſte
Verminderung ſeiner ehemaligen Liebesnei-
gung an ſich verſpuͤren laſſe. Der Poet ver-
antwortete ſich mit dieſem Doppelverſe.
Gjer Mestſchid jikildiſe;
Nola Mihrab Jerinde.
[Spaltenumbruch]
Das iſt: Obgleich der Mestſchid (oder Tem-
pel) zerſtoͤret iſt; ſo iſt doch der Mihrab (oder
Altar) noch in gutem Stande. Sobald ſeine
Feinde dieſen Vers aus ſeinem Munde hoͤren:
ſo ziehen ſie ihn gleich vor den Richter, und
klagen ihn einer Gotteslaͤſterung an. Denn
ſie erklaͤren die Verſe ſo, als wenn er das
verfallene Angeſicht ſeiner Beyſchlaͤferinn mit
einer Kirche, und denjenigen Theil ihres Lei-
bes, der von ihm zur Buͤßung ſeiner jugend-
[Spaltenumbruch]
lichen Luͤſte gebrauchet worden, mit einem
Altare verglichen haͤtte. Hierdurch wurde
der Richter dergeſtalt aufgebracht, daß er den
Poeten verdammte, ſeinen Kopf zu verlieren.
126 Nißam] Eine Gattung Gedichte,
die oͤfters, und ſonderlich im Kuron, vor-
kommt, deswegen auch dieſelbe fuͤr zierlicher
gehalten wird, als die andern.

woͤhn-
* Maͤrtirer.
2* Ueberwinder.
* Griechen.
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[326/0416] Osmaniſche Geſchichte Geiſtlichen und Ordensleute, die ſich zu Conſtantinopel gegenwaͤrtig befanden, bekamen Befehl, das Telaweti Kuron ¹²⁴ alle Tage vierzigmal zu Ende zu brin- gen, und damit vierzig Tage lang anzuhalten, um durch dieſe Gebeter die Ruhe ſeiner Seele fuͤr ihn zu erbitten. Ferner ließ auch ſein Sohn vor dem Dſchami einen Mihrab ¹²⁵ aufrichten, und uͤber deſſen Grab einen großen marmornen Tuͤrbe ſetzen, das noch bis auf den heutigen Tag von den Muͤſuͤlmanen andaͤch- tig verehret wird. Denn ſie glaubten feſtiglich, daß derſelbe ein großer Lieb- ling des Himmels geweſen ſey, weil er nicht allein ſein Leben bey der Belagerung von Schegetwar eingebuͤßet und alſo ein Schehid * geworden; ſondern auch ein Gaßi 2* geweſen ſey, indem zwo Staͤdte unter der Anfuͤhrung ſeines hinterblie- benen Leichnams erobert und mit dem osmaniſchen Reiche vereiniget worden ſeyen. 56. Dieſes war das Leben und die Regierung Suͤlejmans, eines Fuͤr- ſten von heldenmaͤßigem und unuͤberwindlichem Gemuͤthe, großer Tapferkeit und Klugheit, und von ſolcher Geduld in Ertragung des Ungemachs (das ge- woͤhn- ¹²⁴ Telaweti Kuron] Die Leſung des ganzen Kurons, die gewoͤhnlicher Weiſe uͤber dem Grabe des Verſtorbenen geſchiehet; eben wie bey uns * in dieſem Falle der Pſalter und das neue Teſtament pflegen geleſen zu werden. ¹²⁵ Mihrab] heißet ſowol einen Altar, als auch den ſuͤdlichen Theil eines Dſchami. Von dieſem Worte haben die Tuͤrken folgende Geſchichte. Ein gewiſſer Poet wurde von ſeinen guten Bekannten damit aufgezogen, daß er ſeine Beyſchlaͤferinn, ungeachtet ſie itzo bleich, baͤrtig und alt geworden ſey, doch noch immer liebe, und nicht die geringſte Verminderung ſeiner ehemaligen Liebesnei- gung an ſich verſpuͤren laſſe. Der Poet ver- antwortete ſich mit dieſem Doppelverſe. Gjer Mestſchid jikildiſe; Nola Mihrab Jerinde. Das iſt: Obgleich der Mestſchid (oder Tem- pel) zerſtoͤret iſt; ſo iſt doch der Mihrab (oder Altar) noch in gutem Stande. Sobald ſeine Feinde dieſen Vers aus ſeinem Munde hoͤren: ſo ziehen ſie ihn gleich vor den Richter, und klagen ihn einer Gotteslaͤſterung an. Denn ſie erklaͤren die Verſe ſo, als wenn er das verfallene Angeſicht ſeiner Beyſchlaͤferinn mit einer Kirche, und denjenigen Theil ihres Lei- bes, der von ihm zur Buͤßung ſeiner jugend- lichen Luͤſte gebrauchet worden, mit einem Altare verglichen haͤtte. Hierdurch wurde der Richter dergeſtalt aufgebracht, daß er den Poeten verdammte, ſeinen Kopf zu verlieren. ¹²⁶ Nißam] Eine Gattung Gedichte, die oͤfters, und ſonderlich im Kuron, vor- kommt, deswegen auch dieſelbe fuͤr zierlicher gehalten wird, als die andern. * Maͤrtirer. 2* Ueberwinder. * Griechen.

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Zitationshilfe: Dimitrie [Moldau, Woiwode], (Cantemir, Dimitrie): Geschichte des osmanischen Reichs nach seinem Anwachse und Abnehmen. Hamburg, 1745, S. 326. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/cantemir_geschichte_1745/416>, abgerufen am 22.11.2024.