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Dimitrie [Moldau, Woiwode], (Cantemir, Dimitrie): Geschichte des osmanischen Reichs nach seinem Anwachse und Abnehmen. Hamburg, 1745.

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8. Bajeßid der II
richtet demselben seines Bruders Tod, und wie es damit zugegangen sey. Der
Sultan, der dieses nicht glauben will, wird von der Sache überzeuget durch
das kurz darauf erschollene Gerücht, daß Dschem durch Verrath eines ge-
wissen Christen ermordet 20 worden wäre. Bajeßid erinnert sich daher sei-
nes Versprechens, und befördert den Barbier Mustäfa zu der Würde des ober-
sten Weßirs. Hierauf schicket derselbe nach Neapel, seines Bruders Leich-
nam abholen zu lassen. Die Gesandten werden daselbst ihrem Range gemäß
wohl empfangen, und ihnen der Leichnam ausgeliefert, der auf Bajeßids Be-
fehl zu Prusa, nicht weit von Murads Grabe, unter den Söhnen des königli-
chen osmanischen Geschlechts beygesetzet wird.

12.

Dieses war Dschems Ende, eines Fürsten von großer HoffnungDschems Eigen-
schaften.

und guten Gemüthsgaben. Nichts mangelte demselben, was unter den Na-
men der Tugend, Klugheit, Großmuth, Tapferkeit und Weisheit begriffen
werden kann. Von seinem Alter hatte er keinen seines Gleichen. Sonderlich
wird er wegen seiner Beredsamkeit 21 und Erfahrung in der Redekunst gerüh-
met, indem er die Leute mehr durch seine Reden, als durch Geld oder Gnaden-
gaben, zu seiner Partey gebracht hat. Um alles in einem Worte zu verfassen:
er würde (wie die Türken sagen) der vollkommenste Fürst und einer so hohen
Geburt würdig gewesen seyn, wenn er nicht den Glanz seiner Tugenden durch
seine schändliche Flucht zu den Christen verdunkelt hätte. Wiewol er auch
unter diesen die muhämmedischen Gebräuche genau beobachtete, und nicht allein
das gehörige Gebet täglich fünfmal verrichtete, sondern auch das Telaweti Ku-
ron 22 alle Wochen zu Ende brachte.

[Spaltenumbruch]
Wissenschaft der Rede, oder die Kunst, wohl
zu reden; gleichwie Ilmi Mäntik, die Kunst
zu urtheilen; Ilmi Särf, die Sprachkunst;
Ilmi Nähw, die Erkenntniß der Zusammen-
setzung der Wörter (Syntax); Ilmi Hikjmet,
die Erkenntniß geheimer Dinge oder der Welt-
weisheit; Ilmi Ilahi, die Erkenntniß von
Gott oder die Gottesgelehrtheit; Ilmi Fä-
kih, die Erkenntniß des Gesetzes, die bey ih-
nen die vornehmste von allen ist, weil sie
des andern Nutzen befördert; Ilmi Nedsch-
dscham, die Erkenntniß der Sterne oder die
[Spaltenumbruch]
Sternseherkunst; Ilmi Hendese, die Erkennt-
niß des Ausmessens oder die Mathematik;
Ilmi Ikografije*, die Geographie; Ilmi
Räkäm, die Rechenkunst; Ilmi Schir, die
Dichtkunst; u. s. w.
22 Telaweti Kuron] die Lesung des
ganzen Kurons. Dieses geschiehet bey der
Beerdigung eines Todten, und bey dessen Gra-
be, vierzig Tage lang: so lange nämlich, als
bey uns2* der Psalter über den Todten gele-
sen wird. Die Türken glauben, die Seele
13. Nach-
* Dschagrafije finden wir, und dieses kommt dem griechischen Worte näher.
2* bey den Griechen.

8. Bajeßid der II
richtet demſelben ſeines Bruders Tod, und wie es damit zugegangen ſey. Der
Sultan, der dieſes nicht glauben will, wird von der Sache uͤberzeuget durch
das kurz darauf erſchollene Geruͤcht, daß Dſchem durch Verrath eines ge-
wiſſen Chriſten ermordet 20 worden waͤre. Bajeßid erinnert ſich daher ſei-
nes Verſprechens, und befoͤrdert den Barbier Muſtaͤfa zu der Wuͤrde des ober-
ſten Weßirs. Hierauf ſchicket derſelbe nach Neapel, ſeines Bruders Leich-
nam abholen zu laſſen. Die Geſandten werden daſelbſt ihrem Range gemaͤß
wohl empfangen, und ihnen der Leichnam ausgeliefert, der auf Bajeßids Be-
fehl zu Pruſa, nicht weit von Murads Grabe, unter den Soͤhnen des koͤnigli-
chen osmaniſchen Geſchlechts beygeſetzet wird.

12.

Dieſes war Dſchems Ende, eines Fuͤrſten von großer HoffnungDſchems Eigen-
ſchaften.

und guten Gemuͤthsgaben. Nichts mangelte demſelben, was unter den Na-
men der Tugend, Klugheit, Großmuth, Tapferkeit und Weisheit begriffen
werden kann. Von ſeinem Alter hatte er keinen ſeines Gleichen. Sonderlich
wird er wegen ſeiner Beredſamkeit 21 und Erfahrung in der Redekunſt geruͤh-
met, indem er die Leute mehr durch ſeine Reden, als durch Geld oder Gnaden-
gaben, zu ſeiner Partey gebracht hat. Um alles in einem Worte zu verfaſſen:
er wuͤrde (wie die Tuͤrken ſagen) der vollkommenſte Fuͤrſt und einer ſo hohen
Geburt wuͤrdig geweſen ſeyn, wenn er nicht den Glanz ſeiner Tugenden durch
ſeine ſchaͤndliche Flucht zu den Chriſten verdunkelt haͤtte. Wiewol er auch
unter dieſen die muhaͤmmediſchen Gebraͤuche genau beobachtete, und nicht allein
das gehoͤrige Gebet taͤglich fuͤnfmal verrichtete, ſondern auch das Telaweti Ku-
ron 22 alle Wochen zu Ende brachte.

[Spaltenumbruch]
Wiſſenſchaft der Rede, oder die Kunſt, wohl
zu reden; gleichwie Ilmi Maͤntik, die Kunſt
zu urtheilen; Ilmi Saͤrf, die Sprachkunſt;
Ilmi Naͤhw, die Erkenntniß der Zuſammen-
ſetzung der Woͤrter (Syntax); Ilmi Hikjmet,
die Erkenntniß geheimer Dinge oder der Welt-
weisheit; Ilmi Ilahi, die Erkenntniß von
Gott oder die Gottesgelehrtheit; Ilmi Faͤ-
kih, die Erkenntniß des Geſetzes, die bey ih-
nen die vornehmſte von allen iſt, weil ſie
des andern Nutzen befoͤrdert; Ilmi Nedſch-
dſcham, die Erkenntniß der Sterne oder die
[Spaltenumbruch]
Sternſeherkunſt; Ilmi Hendeſe, die Erkennt-
niß des Ausmeſſens oder die Mathematik;
Ilmi Ikografije*, die Geographie; Ilmi
Raͤkaͤm, die Rechenkunſt; Ilmi Schir, die
Dichtkunſt; u. ſ. w.
22 Telaweti Kuron] die Leſung des
ganzen Kurons. Dieſes geſchiehet bey der
Beerdigung eines Todten, und bey deſſen Gra-
be, vierzig Tage lang: ſo lange naͤmlich, als
bey uns2* der Pſalter uͤber den Todten gele-
ſen wird. Die Tuͤrken glauben, die Seele
13. Nach-
* Dſchagrafije finden wir, und dieſes kommt dem griechiſchen Worte naͤher.
2* bey den Griechen.
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[183/0269] 8. Bajeßid der II richtet demſelben ſeines Bruders Tod, und wie es damit zugegangen ſey. Der Sultan, der dieſes nicht glauben will, wird von der Sache uͤberzeuget durch das kurz darauf erſchollene Geruͤcht, daß Dſchem durch Verrath eines ge- wiſſen Chriſten ermordet ²⁰ worden waͤre. Bajeßid erinnert ſich daher ſei- nes Verſprechens, und befoͤrdert den Barbier Muſtaͤfa zu der Wuͤrde des ober- ſten Weßirs. Hierauf ſchicket derſelbe nach Neapel, ſeines Bruders Leich- nam abholen zu laſſen. Die Geſandten werden daſelbſt ihrem Range gemaͤß wohl empfangen, und ihnen der Leichnam ausgeliefert, der auf Bajeßids Be- fehl zu Pruſa, nicht weit von Murads Grabe, unter den Soͤhnen des koͤnigli- chen osmaniſchen Geſchlechts beygeſetzet wird. 12. Dieſes war Dſchems Ende, eines Fuͤrſten von großer Hoffnung und guten Gemuͤthsgaben. Nichts mangelte demſelben, was unter den Na- men der Tugend, Klugheit, Großmuth, Tapferkeit und Weisheit begriffen werden kann. Von ſeinem Alter hatte er keinen ſeines Gleichen. Sonderlich wird er wegen ſeiner Beredſamkeit ²¹ und Erfahrung in der Redekunſt geruͤh- met, indem er die Leute mehr durch ſeine Reden, als durch Geld oder Gnaden- gaben, zu ſeiner Partey gebracht hat. Um alles in einem Worte zu verfaſſen: er wuͤrde (wie die Tuͤrken ſagen) der vollkommenſte Fuͤrſt und einer ſo hohen Geburt wuͤrdig geweſen ſeyn, wenn er nicht den Glanz ſeiner Tugenden durch ſeine ſchaͤndliche Flucht zu den Chriſten verdunkelt haͤtte. Wiewol er auch unter dieſen die muhaͤmmediſchen Gebraͤuche genau beobachtete, und nicht allein das gehoͤrige Gebet taͤglich fuͤnfmal verrichtete, ſondern auch das Telaweti Ku- ron ²² alle Wochen zu Ende brachte. Dſchems Eigen- ſchaften. 13. Nach- Wiſſenſchaft der Rede, oder die Kunſt, wohl zu reden; gleichwie Ilmi Maͤntik, die Kunſt zu urtheilen; Ilmi Saͤrf, die Sprachkunſt; Ilmi Naͤhw, die Erkenntniß der Zuſammen- ſetzung der Woͤrter (Syntax); Ilmi Hikjmet, die Erkenntniß geheimer Dinge oder der Welt- weisheit; Ilmi Ilahi, die Erkenntniß von Gott oder die Gottesgelehrtheit; Ilmi Faͤ- kih, die Erkenntniß des Geſetzes, die bey ih- nen die vornehmſte von allen iſt, weil ſie des andern Nutzen befoͤrdert; Ilmi Nedſch- dſcham, die Erkenntniß der Sterne oder die Sternſeherkunſt; Ilmi Hendeſe, die Erkennt- niß des Ausmeſſens oder die Mathematik; Ilmi Ikografije *, die Geographie; Ilmi Raͤkaͤm, die Rechenkunſt; Ilmi Schir, die Dichtkunſt; u. ſ. w. ²² Telaweti Kuron] die Leſung des ganzen Kurons. Dieſes geſchiehet bey der Beerdigung eines Todten, und bey deſſen Gra- be, vierzig Tage lang: ſo lange naͤmlich, als bey uns 2* der Pſalter uͤber den Todten gele- ſen wird. Die Tuͤrken glauben, die Seele ſchwebe * Dſchagrafije finden wir, und dieſes kommt dem griechiſchen Worte naͤher. 2* bey den Griechen.

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Zitationshilfe: Dimitrie [Moldau, Woiwode], (Cantemir, Dimitrie): Geschichte des osmanischen Reichs nach seinem Anwachse und Abnehmen. Hamburg, 1745, S. 183. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/cantemir_geschichte_1745/269>, abgerufen am 22.11.2024.