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[Canitz, Friedrich Rudolph Ludwig von]: Neben-Stunden Unterschiedener Gedichte. [Hrsg. v. Joachim Lange]. Berlin, 1700.

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Wird meiner Musen Zorn sich auch zu sehr ergiessen?
Läßt sie nicht schon zu viel vergällte Worte fliessen?
Sie geht vielleicht zu weit/ und kennt die Weise nicht/
Nach der man insgemein mit Stands-Personen
spricht.

Wolan so wil ich denn mit Glimpff nur dieses fragen:
Ists lange daß man hört von deinem Adel sagen?
Schon gantzer tausend Jahr. Und dein bekandtes Haus
Streckt seiner Ahnen Zahl/ auf zwey und dreyßig aus?
In Warheit das ist viel/ zumahl da zu erweisen/
Daß ihrer Titel Pracht fast alle Schrifften preisen/
Ihr Rame lebt/ und trutzt dem Schiffbruch rauher
Zeit/

Das alles ist sehr gut; doch wer schwert einen Eyd/
Daß binnen solcher Frist/ der Mütter keusches Lieben
Den Männern immer treu/ den Buhlern feind geblieben;
Daß nie ein kühner Freund sie glücklich angelacht/
Und durch den Adel-Stand dir einen Strich gemacht.
Und daß ein reines Blut/ aus nicht geringerm Orden
Stets durch Lucretien dir zugeflösset worden?
Verflucht sey jener Tag an dem der eitle Tand
Zuerst die Reinigkeit der Sitten weggebannt!
Als die noch zarte Welt lag gleichsam in der Wiegen/
Durfft einer sich auf nichts als auf die Unschuld triegen/
Das Volck das war vergnügt und in Gesetzen gleich/
Verdienst war Adels werth/ und galt ein Königreich.
Da fand man keinen Held/ der sich auf Herkunfft stützte/
Und der nicht von sich selbst mit eignen Straalen blitzte/
Biß daß man mit der Zeit die Tugend so verließ/
Daß man sie Bürgerlich/ das Laster edel hieß.
Der neu-erwachsene Stand hielt andre bald für Scla-
ven/

Das Land ward überschwemmt von Herren und von Gra-
fen/

Man hatte Tugend gnug/ wenn man sich Titel gab/
Und wieß an statt des Kerns die Welt mit Schaalen ab.
Bald
Wird meiner Muſen Zorn ſich auch zu ſehr ergieſſen?
Laͤßt ſie nicht ſchon zu viel vergaͤllte Worte flieſſen?
Sie geht vielleicht zu weit/ und kennt die Weiſe nicht/
Nach der man insgemein mit Stands-Perſonen
ſpricht.

Wolan ſo wil ich denn mit Glimpff nur dieſes fragen:
Iſts lange daß man hoͤrt von deinem Adel ſagen?
Schon gantzer tauſend Jahr. Uñ dein bekandtes Haus
Streckt ſeiner Ahnen Zahl/ auf zwey und dreyßig aus?
In Warheit das iſt viel/ zumahl da zu erweiſen/
Daß ihrer Titel Pracht faſt alle Schrifften preiſen/
Ihr Rame lebt/ und trutzt dem Schiffbruch rauher
Zeit/

Das alles iſt ſehr gut; doch wer ſchwert einen Eyd/
Daß binnen ſolcher Friſt/ der Muͤtter keuſches Lieben
Den Maͤnnern immer treu/ den Buhlern feind geblieben;
Daß nie ein kuͤhner Freund ſie gluͤcklich angelacht/
Und durch den Adel-Stand dir einen Strich gemacht.
Und daß ein reines Blut/ aus nicht geringerm Orden
Stets durch Lucretien dir zugefloͤſſet worden?
Verflucht ſey jener Tag an dem der eitle Tand
Zuerſt die Reinigkeit der Sitten weggebannt!
Als die noch zarte Welt lag gleichſam in der Wiegen/
Durfft einer ſich auf nichts als auf die Unſchuld triegen/
Das Volck das war vergnuͤgt und in Geſetzen gleich/
Verdienſt war Adels werth/ und galt ein Koͤnigreich.
Da fand man keinen Held/ der ſich auf Herkunfft ſtuͤtzte/
Und der nicht von ſich ſelbſt mit eignen Straalen blitzte/
Biß daß man mit der Zeit die Tugend ſo verließ/
Daß man ſie Buͤrgerlich/ das Laſter edel hieß.
Der neu-erwachſene Stand hielt andre bald fuͤr Scla-
ven/

Das Land ward uͤberſchwem̃t von Herren und von Gra-
fen/

Man hatte Tugend gnug/ wenn man ſich Titel gab/
Und wieß an ſtatt des Kerns die Welt mit Schaalen ab.
Bald
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[76/0089] Wird meiner Muſen Zorn ſich auch zu ſehr ergieſſen? Laͤßt ſie nicht ſchon zu viel vergaͤllte Worte flieſſen? Sie geht vielleicht zu weit/ und kennt die Weiſe nicht/ Nach der man insgemein mit Stands-Perſonen ſpricht. Wolan ſo wil ich denn mit Glimpff nur dieſes fragen: Iſts lange daß man hoͤrt von deinem Adel ſagen? Schon gantzer tauſend Jahr. Uñ dein bekandtes Haus Streckt ſeiner Ahnen Zahl/ auf zwey und dreyßig aus? In Warheit das iſt viel/ zumahl da zu erweiſen/ Daß ihrer Titel Pracht faſt alle Schrifften preiſen/ Ihr Rame lebt/ und trutzt dem Schiffbruch rauher Zeit/ Das alles iſt ſehr gut; doch wer ſchwert einen Eyd/ Daß binnen ſolcher Friſt/ der Muͤtter keuſches Lieben Den Maͤnnern immer treu/ den Buhlern feind geblieben; Daß nie ein kuͤhner Freund ſie gluͤcklich angelacht/ Und durch den Adel-Stand dir einen Strich gemacht. Und daß ein reines Blut/ aus nicht geringerm Orden Stets durch Lucretien dir zugefloͤſſet worden? Verflucht ſey jener Tag an dem der eitle Tand Zuerſt die Reinigkeit der Sitten weggebannt! Als die noch zarte Welt lag gleichſam in der Wiegen/ Durfft einer ſich auf nichts als auf die Unſchuld triegen/ Das Volck das war vergnuͤgt und in Geſetzen gleich/ Verdienſt war Adels werth/ und galt ein Koͤnigreich. Da fand man keinen Held/ der ſich auf Herkunfft ſtuͤtzte/ Und der nicht von ſich ſelbſt mit eignen Straalen blitzte/ Biß daß man mit der Zeit die Tugend ſo verließ/ Daß man ſie Buͤrgerlich/ das Laſter edel hieß. Der neu-erwachſene Stand hielt andre bald fuͤr Scla- ven/ Das Land ward uͤberſchwem̃t von Herren und von Gra- fen/ Man hatte Tugend gnug/ wenn man ſich Titel gab/ Und wieß an ſtatt des Kerns die Welt mit Schaalen ab. Bald

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Zitationshilfe: [Canitz, Friedrich Rudolph Ludwig von]: Neben-Stunden Unterschiedener Gedichte. [Hrsg. v. Joachim Lange]. Berlin, 1700, S. 76. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/canitz_gedichte_1700/89>, abgerufen am 22.11.2024.