Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Campe, Joachim Heinrich: Theophron oder der erfahrne Rathgeber für die unerfahrne Jugend. Bd. 2. Hamburg, 1783.

Bild:
<< vorherige Seite

seits hinaus nichts weiter recht ist *). Sie wer-
den durch eine sehr zarte Linie bezeichnet, die blos
guter Verstand und Aufmerksamkeit entdekken kön-
nen, und die für gemeine Augen viel zu fein ist.
Bei den Sitten heißt diese Linie Wohlanständig-
keit; was darüber hinaus geht, ist beschwerliches
Zeremonienwerk; was darunter zurükbleibt, un-
anständige Nachläßigkeit und Achtlosigkeit. In
der Ausübung ist sie die Scheidewand zwischen
pralerischer, puritanischer Strenge und einer la-
sterhaften Gelindigkeit. In der Religion trent
sie Aberglauben von Gotlosigkeit, und kurz, jede
Tugend von der mit ihr verwandten Untugend
oder Schwachheit.


Am meisten hüte dich vor der Verschwen-
dung deiner Zeit
, besonders derjenigen, welche
deinen Studien oder deinen Geschäften geheiliget
sein muß. In deinem Alter darfst du dich nicht
schämen, denen, welche dich zu unzeitigen Lust-
barkeiten verführen wollen, zu sagen: du müß-
test um Entschuldigung bitten; denn du wärest

genöthigt,
*) Quos ultra citraque nequit consistere rectum.

ſeits hinaus nichts weiter recht iſt *). Sie wer-
den durch eine ſehr zarte Linie bezeichnet, die blos
guter Verſtand und Aufmerkſamkeit entdekken koͤn-
nen, und die fuͤr gemeine Augen viel zu fein iſt.
Bei den Sitten heißt dieſe Linie Wohlanſtaͤndig-
keit; was daruͤber hinaus geht, iſt beſchwerliches
Zeremonienwerk; was darunter zuruͤkbleibt, un-
anſtaͤndige Nachlaͤßigkeit und Achtloſigkeit. In
der Ausuͤbung iſt ſie die Scheidewand zwiſchen
praleriſcher, puritaniſcher Strenge und einer la-
ſterhaften Gelindigkeit. In der Religion trent
ſie Aberglauben von Gotloſigkeit, und kurz, jede
Tugend von der mit ihr verwandten Untugend
oder Schwachheit.


Am meiſten huͤte dich vor der Verſchwen-
dung deiner Zeit
, beſonders derjenigen, welche
deinen Studien oder deinen Geſchaͤften geheiliget
ſein muß. In deinem Alter darfſt du dich nicht
ſchaͤmen, denen, welche dich zu unzeitigen Luſt-
barkeiten verfuͤhren wollen, zu ſagen: du muͤß-
teſt um Entſchuldigung bitten; denn du waͤreſt

genoͤthigt,
*) Quos ultra citraque nequit conſiſtere rectum.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0166" n="160"/>
&#x017F;eits hinaus nichts weiter recht i&#x017F;t <note place="foot" n="*)"><hi rendition="#aq">Quos ultra citraque nequit con&#x017F;i&#x017F;tere rectum.</hi></note>. Sie wer-<lb/>
den durch eine &#x017F;ehr zarte Linie bezeichnet, die blos<lb/>
guter Ver&#x017F;tand und Aufmerk&#x017F;amkeit entdekken ko&#x0364;n-<lb/>
nen, und die fu&#x0364;r gemeine Augen viel zu fein i&#x017F;t.<lb/>
Bei den Sitten heißt die&#x017F;e Linie Wohlan&#x017F;ta&#x0364;ndig-<lb/>
keit; was daru&#x0364;ber hinaus geht, i&#x017F;t be&#x017F;chwerliches<lb/>
Zeremonienwerk; was darunter zuru&#x0364;kbleibt, un-<lb/>
an&#x017F;ta&#x0364;ndige Nachla&#x0364;ßigkeit und Achtlo&#x017F;igkeit. In<lb/>
der Ausu&#x0364;bung i&#x017F;t &#x017F;ie die Scheidewand zwi&#x017F;chen<lb/>
praleri&#x017F;cher, puritani&#x017F;cher Strenge und einer la-<lb/>
&#x017F;terhaften Gelindigkeit. In der Religion trent<lb/>
&#x017F;ie Aberglauben von Gotlo&#x017F;igkeit, und kurz, jede<lb/>
Tugend von der mit ihr verwandten Untugend<lb/>
oder Schwachheit.</p><lb/>
        <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
        <p>Am mei&#x017F;ten hu&#x0364;te dich vor der <hi rendition="#fr">Ver&#x017F;chwen-<lb/>
dung deiner Zeit</hi>, be&#x017F;onders derjenigen, welche<lb/>
deinen Studien oder deinen Ge&#x017F;cha&#x0364;ften geheiliget<lb/>
&#x017F;ein muß. In deinem Alter darf&#x017F;t du dich nicht<lb/>
&#x017F;cha&#x0364;men, denen, welche dich zu unzeitigen Lu&#x017F;t-<lb/>
barkeiten verfu&#x0364;hren wollen, zu &#x017F;agen: du mu&#x0364;ß-<lb/>
te&#x017F;t um Ent&#x017F;chuldigung bitten; denn du wa&#x0364;re&#x017F;t<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">geno&#x0364;thigt,</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[160/0166] ſeits hinaus nichts weiter recht iſt *). Sie wer- den durch eine ſehr zarte Linie bezeichnet, die blos guter Verſtand und Aufmerkſamkeit entdekken koͤn- nen, und die fuͤr gemeine Augen viel zu fein iſt. Bei den Sitten heißt dieſe Linie Wohlanſtaͤndig- keit; was daruͤber hinaus geht, iſt beſchwerliches Zeremonienwerk; was darunter zuruͤkbleibt, un- anſtaͤndige Nachlaͤßigkeit und Achtloſigkeit. In der Ausuͤbung iſt ſie die Scheidewand zwiſchen praleriſcher, puritaniſcher Strenge und einer la- ſterhaften Gelindigkeit. In der Religion trent ſie Aberglauben von Gotloſigkeit, und kurz, jede Tugend von der mit ihr verwandten Untugend oder Schwachheit. Am meiſten huͤte dich vor der Verſchwen- dung deiner Zeit, beſonders derjenigen, welche deinen Studien oder deinen Geſchaͤften geheiliget ſein muß. In deinem Alter darfſt du dich nicht ſchaͤmen, denen, welche dich zu unzeitigen Luſt- barkeiten verfuͤhren wollen, zu ſagen: du muͤß- teſt um Entſchuldigung bitten; denn du waͤreſt genoͤthigt, *) Quos ultra citraque nequit conſiſtere rectum.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/campe_theophron02_1783
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/campe_theophron02_1783/166
Zitationshilfe: Campe, Joachim Heinrich: Theophron oder der erfahrne Rathgeber für die unerfahrne Jugend. Bd. 2. Hamburg, 1783, S. 160. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/campe_theophron02_1783/166>, abgerufen am 12.12.2024.