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Campe, Joachim Heinrich: Theophron oder der erfahrne Rathgeber für die unerfahrne Jugend. Bd. 2. Hamburg, 1783.

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Ein großer, in seiner Zelle zu Oxford oder
Cambridge verrostender, Gottesgelehrte wird
vortrefliche Schlüsse über des Menschen Natur vor-
bringen; er wird Kopf, Herz, Vernunft, Willen,
Leidenschaften, Sinne, Empfindungen und alle
die Unterabtheilungen der menschlichen Geistes-
kräfte scharf zergliedern; gleichwohl kent er un-
glüklicher Weise den Menschen nicht; denn er hat
nicht mit ihm gelebt; er weiß nichts von allen
den mancherlei Arten, Fertigkeiten, Vorurtheilen
und Geschmak, die stets auf ihn Einfluß haben,
und oft ihn bestimmen. Er betrachtet den Men-
schen wie die Farben auf Sir Isaak Newtons
Prisma, wo nur die Hauptfarben zu sehen sind.
Ein erfahrner Färber hingegen kent alle ihre man-
nichfaltigen Schattierungen und Stuffenfolgen,
nebst der Wirkung ihrer Mischungen. Wenige
sind von einfacher, bestimter Farbe, die meisten
vermischt und schattiert, und wechseln nach den
verschiednen Lagen eben so sehr ab, wie spielende
Seidenfarben nach dem verschiedentlichen Lichte.

Das alles weiß ein Man, der Welt hat,
aus eigner Erfahrung und Beobachtung. Der

einge-

Ein großer, in ſeiner Zelle zu Oxford oder
Cambridge verroſtender, Gottesgelehrte wird
vortrefliche Schluͤſſe uͤber des Menſchen Natur vor-
bringen; er wird Kopf, Herz, Vernunft, Willen,
Leidenſchaften, Sinne, Empfindungen und alle
die Unterabtheilungen der menſchlichen Geiſtes-
kraͤfte ſcharf zergliedern; gleichwohl kent er un-
gluͤklicher Weiſe den Menſchen nicht; denn er hat
nicht mit ihm gelebt; er weiß nichts von allen
den mancherlei Arten, Fertigkeiten, Vorurtheilen
und Geſchmak, die ſtets auf ihn Einfluß haben,
und oft ihn beſtimmen. Er betrachtet den Men-
ſchen wie die Farben auf Sir Iſaak Newtons
Prisma, wo nur die Hauptfarben zu ſehen ſind.
Ein erfahrner Faͤrber hingegen kent alle ihre man-
nichfaltigen Schattierungen und Stuffenfolgen,
nebſt der Wirkung ihrer Miſchungen. Wenige
ſind von einfacher, beſtimter Farbe, die meiſten
vermiſcht und ſchattiert, und wechſeln nach den
verſchiednen Lagen eben ſo ſehr ab, wie ſpielende
Seidenfarben nach dem verſchiedentlichen Lichte.

Das alles weiß ein Man, der Welt hat,
aus eigner Erfahrung und Beobachtung. Der

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[120/0126] Ein großer, in ſeiner Zelle zu Oxford oder Cambridge verroſtender, Gottesgelehrte wird vortrefliche Schluͤſſe uͤber des Menſchen Natur vor- bringen; er wird Kopf, Herz, Vernunft, Willen, Leidenſchaften, Sinne, Empfindungen und alle die Unterabtheilungen der menſchlichen Geiſtes- kraͤfte ſcharf zergliedern; gleichwohl kent er un- gluͤklicher Weiſe den Menſchen nicht; denn er hat nicht mit ihm gelebt; er weiß nichts von allen den mancherlei Arten, Fertigkeiten, Vorurtheilen und Geſchmak, die ſtets auf ihn Einfluß haben, und oft ihn beſtimmen. Er betrachtet den Men- ſchen wie die Farben auf Sir Iſaak Newtons Prisma, wo nur die Hauptfarben zu ſehen ſind. Ein erfahrner Faͤrber hingegen kent alle ihre man- nichfaltigen Schattierungen und Stuffenfolgen, nebſt der Wirkung ihrer Miſchungen. Wenige ſind von einfacher, beſtimter Farbe, die meiſten vermiſcht und ſchattiert, und wechſeln nach den verſchiednen Lagen eben ſo ſehr ab, wie ſpielende Seidenfarben nach dem verſchiedentlichen Lichte. Das alles weiß ein Man, der Welt hat, aus eigner Erfahrung und Beobachtung. Der einge-

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Zitationshilfe: Campe, Joachim Heinrich: Theophron oder der erfahrne Rathgeber für die unerfahrne Jugend. Bd. 2. Hamburg, 1783, S. 120. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/campe_theophron02_1783/126>, abgerufen am 09.11.2024.