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Campe, Joachim Heinrich: Theophron oder der erfahrne Rathgeber für die unerfahrne Jugend. Bd. 2. Hamburg, 1783.

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Hingegen Kardinal Richelieus herschende Lei-
denschaft scheint der Ehrgeiz, und sein unermeß-
licher Reichthum blos die natürliche Folge von
dessen Befriedigung gewesen zu sein. Gleichwohl
zweifle ich nicht, daß der Ehrgeiz zuweilen beim
Mazarin, und wieder der Geiz beim Richelieu
geherscht habe.

Der lezte, im Vorbeigehn gedacht, ist ein so
starker Beweis des Widersprechenden der mensch-
lichen Natur, daß ich nicht umhin kan, anzufüh-
ren, daß er, indem er seinen König und sein Va-
terland regierte, und gewissermaßen der Schieds-
richter des Schiksals von ganz Europa war, grös-
sere Eifersucht gegen des Corneille ausgebreiteten
Ruf, als gegen die Macht Spaniens, hegte; und
es ihm lieber war, für das, was er nicht war,
für den größten Dichter gehalten zu werden, als
für das, was er gewiß war, für den größten
Staatsman in Europa. Die Staatsangelegen-
heiten mußten ruhen, indem er auf Kritiken über
den Cid san.

Solte man das wohl für möglich halten, wenn
man nicht wüßte, daß es wahr ist?



Sind

Hingegen Kardinal Richelieus herſchende Lei-
denſchaft ſcheint der Ehrgeiz, und ſein unermeß-
licher Reichthum blos die natuͤrliche Folge von
deſſen Befriedigung geweſen zu ſein. Gleichwohl
zweifle ich nicht, daß der Ehrgeiz zuweilen beim
Mazarin, und wieder der Geiz beim Richelieu
geherſcht habe.

Der lezte, im Vorbeigehn gedacht, iſt ein ſo
ſtarker Beweis des Widerſprechenden der menſch-
lichen Natur, daß ich nicht umhin kan, anzufuͤh-
ren, daß er, indem er ſeinen Koͤnig und ſein Va-
terland regierte, und gewiſſermaßen der Schieds-
richter des Schikſals von ganz Europa war, groͤſ-
ſere Eiferſucht gegen des Corneille ausgebreiteten
Ruf, als gegen die Macht Spaniens, hegte; und
es ihm lieber war, fuͤr das, was er nicht war,
fuͤr den groͤßten Dichter gehalten zu werden, als
fuͤr das, was er gewiß war, fuͤr den groͤßten
Staatsman in Europa. Die Staatsangelegen-
heiten mußten ruhen, indem er auf Kritiken uͤber
den Cid ſan.

Solte man das wohl fuͤr moͤglich halten, wenn
man nicht wuͤßte, daß es wahr iſt?



Sind
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[109/0115] Hingegen Kardinal Richelieus herſchende Lei- denſchaft ſcheint der Ehrgeiz, und ſein unermeß- licher Reichthum blos die natuͤrliche Folge von deſſen Befriedigung geweſen zu ſein. Gleichwohl zweifle ich nicht, daß der Ehrgeiz zuweilen beim Mazarin, und wieder der Geiz beim Richelieu geherſcht habe. Der lezte, im Vorbeigehn gedacht, iſt ein ſo ſtarker Beweis des Widerſprechenden der menſch- lichen Natur, daß ich nicht umhin kan, anzufuͤh- ren, daß er, indem er ſeinen Koͤnig und ſein Va- terland regierte, und gewiſſermaßen der Schieds- richter des Schikſals von ganz Europa war, groͤſ- ſere Eiferſucht gegen des Corneille ausgebreiteten Ruf, als gegen die Macht Spaniens, hegte; und es ihm lieber war, fuͤr das, was er nicht war, fuͤr den groͤßten Dichter gehalten zu werden, als fuͤr das, was er gewiß war, fuͤr den groͤßten Staatsman in Europa. Die Staatsangelegen- heiten mußten ruhen, indem er auf Kritiken uͤber den Cid ſan. Solte man das wohl fuͤr moͤglich halten, wenn man nicht wuͤßte, daß es wahr iſt? Sind

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Zitationshilfe: Campe, Joachim Heinrich: Theophron oder der erfahrne Rathgeber für die unerfahrne Jugend. Bd. 2. Hamburg, 1783, S. 109. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/campe_theophron02_1783/115>, abgerufen am 09.11.2024.