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Campe, Joachim Heinrich: Theophron oder der erfahrne Rathgeber für die unerfahrne Jugend. Bd. 1. Hamburg, 1783.

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schaft; einer beleidiget den andern, ohne Haß.
Eigennuz, nicht Gefühl, ist das Gewächs dieses
Bodens."

Das sonderbarste hierbei ist, daß alle diese
uneigennüzigen, edlen und großmüthigen Leute
einer dem andern bis in die verborgenste Falte
ihres verstekten Herzens sehen, und daß gleich-
wohl jeder insbesondere sich mit der Hofnung
schmeichelt, daß es ihm, ihm allein gelingen
werde, seine Maske so künstlich anzulegen, daß
kein menschliches Auge den Betrug zu entdekken
vermöge. Das mag denn auch wohl zum Theil
die Ursache sein, warum der eine beim Aublik des
andern, wie der Harusper Cicero beim Anblik
eines andern Gauklers aus der nemlichen ehr-
würdigen Klasse, sich des Lächelns nicht enthalten
kan, weil jeder aus dem Bewußtsein seiner eigenen
Verstellung schließt, was er von der Prachtlarve
einer uneigennüzigen Rechtschaffenheit, womit der
andere, so gut als er, Parade macht, zu halten
habe. Einer erkent in dem andern den Schau-
spieler, der die auswendig gelernte Rolle des Bi-
dermans macht; aber ohngeachtet er selbst in

gleicher

ſchaft; einer beleidiget den andern, ohne Haß.
Eigennuz, nicht Gefuͤhl, iſt das Gewaͤchs dieſes
Bodens.„

Das ſonderbarſte hierbei iſt, daß alle dieſe
uneigennuͤzigen, edlen und großmuͤthigen Leute
einer dem andern bis in die verborgenſte Falte
ihres verſtekten Herzens ſehen, und daß gleich-
wohl jeder insbeſondere ſich mit der Hofnung
ſchmeichelt, daß es ihm, ihm allein gelingen
werde, ſeine Maske ſo kuͤnſtlich anzulegen, daß
kein menſchliches Auge den Betrug zu entdekken
vermoͤge. Das mag denn auch wohl zum Theil
die Urſache ſein, warum der eine beim Aublik des
andern, wie der Haruſper Cicero beim Anblik
eines andern Gauklers aus der nemlichen ehr-
wuͤrdigen Klaſſe, ſich des Laͤchelns nicht enthalten
kan, weil jeder aus dem Bewußtſein ſeiner eigenen
Verſtellung ſchließt, was er von der Prachtlarve
einer uneigennuͤzigen Rechtſchaffenheit, womit der
andere, ſo gut als er, Parade macht, zu halten
habe. Einer erkent in dem andern den Schau-
ſpieler, der die auswendig gelernte Rolle des Bi-
dermans macht; aber ohngeachtet er ſelbſt in

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[127/0157] ſchaft; einer beleidiget den andern, ohne Haß. Eigennuz, nicht Gefuͤhl, iſt das Gewaͤchs dieſes Bodens.„ Das ſonderbarſte hierbei iſt, daß alle dieſe uneigennuͤzigen, edlen und großmuͤthigen Leute einer dem andern bis in die verborgenſte Falte ihres verſtekten Herzens ſehen, und daß gleich- wohl jeder insbeſondere ſich mit der Hofnung ſchmeichelt, daß es ihm, ihm allein gelingen werde, ſeine Maske ſo kuͤnſtlich anzulegen, daß kein menſchliches Auge den Betrug zu entdekken vermoͤge. Das mag denn auch wohl zum Theil die Urſache ſein, warum der eine beim Aublik des andern, wie der Haruſper Cicero beim Anblik eines andern Gauklers aus der nemlichen ehr- wuͤrdigen Klaſſe, ſich des Laͤchelns nicht enthalten kan, weil jeder aus dem Bewußtſein ſeiner eigenen Verſtellung ſchließt, was er von der Prachtlarve einer uneigennuͤzigen Rechtſchaffenheit, womit der andere, ſo gut als er, Parade macht, zu halten habe. Einer erkent in dem andern den Schau- ſpieler, der die auswendig gelernte Rolle des Bi- dermans macht; aber ohngeachtet er ſelbſt in gleicher

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Zitationshilfe: Campe, Joachim Heinrich: Theophron oder der erfahrne Rathgeber für die unerfahrne Jugend. Bd. 1. Hamburg, 1783, S. 127. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/campe_theophron01_1783/157>, abgerufen am 24.11.2024.