Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Campe, Joachim Heinrich: Theophron oder der erfahrne Rathgeber für die unerfahrne Jugend. Bd. 1. Hamburg, 1783.

Bild:
<< vorherige Seite

Die erste und verzeihlichste unter allen ist die
bloße Verheimligung der Wahrheit in allen
denjenigen Fällen, in welchen keine einzige unsrer
Pflichten uns zur Bekantmachung derselben auf-
fodert. Wo keine Verbindlichkeit stat findet, da
findet auch kein Unrecht stat. Zu schweigen also,
wenn keine unserer natürlichen oder geselschaft-
lichen Pflichten uns zu reden gebietet, kann nie-
mahls unrecht genant werden, kan im Gegentheil
oft gut und weise und pflichtmäßig sein. Es
gibt der Wahrheiten viele, deren unvorsichtige
Bekantmachung für Selen von gewöhnlichem
Schlage eben so verderblich sein würde, als die
plözliche Einlassung des hellen Tageslichts für
diejenigen zu sein pflegt, welche lange Zeit im
Finstern lebten, oder denen man so eben erst
den Staar gestochen hat. Auch in der phisischen
Welt läßt Gott nie auf einmahl Tag werden;
erst Nacht, dan schwache Dämmerung, dan
Morgenroth, und dan erst Tag! So sol es in
dem Reiche der Wahrheit auch sein. Wer hier
auf einmahl Tag machen wolte, der würde vielen
menschlichen Selen das bischen Sehkraft, das

ihnen

Die erſte und verzeihlichſte unter allen iſt die
bloße Verheimligung der Wahrheit in allen
denjenigen Faͤllen, in welchen keine einzige unſrer
Pflichten uns zur Bekantmachung derſelben auf-
fodert. Wo keine Verbindlichkeit ſtat findet, da
findet auch kein Unrecht ſtat. Zu ſchweigen alſo,
wenn keine unſerer natuͤrlichen oder geſelſchaft-
lichen Pflichten uns zu reden gebietet, kann nie-
mahls unrecht genant werden, kan im Gegentheil
oft gut und weiſe und pflichtmaͤßig ſein. Es
gibt der Wahrheiten viele, deren unvorſichtige
Bekantmachung fuͤr Selen von gewoͤhnlichem
Schlage eben ſo verderblich ſein wuͤrde, als die
ploͤzliche Einlaſſung des hellen Tageslichts fuͤr
diejenigen zu ſein pflegt, welche lange Zeit im
Finſtern lebten, oder denen man ſo eben erſt
den Staar geſtochen hat. Auch in der phiſiſchen
Welt laͤßt Gott nie auf einmahl Tag werden;
erſt Nacht, dan ſchwache Daͤmmerung, dan
Morgenroth, und dan erſt Tag! So ſol es in
dem Reiche der Wahrheit auch ſein. Wer hier
auf einmahl Tag machen wolte, der wuͤrde vielen
menſchlichen Selen das bischen Sehkraft, das

ihnen
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0148" n="118"/>
        <p>Die er&#x017F;te und verzeihlich&#x017F;te unter allen i&#x017F;t die<lb/>
bloße <hi rendition="#fr">Verheimligung der Wahrheit</hi> in allen<lb/>
denjenigen Fa&#x0364;llen, in welchen keine einzige un&#x017F;rer<lb/>
Pflichten uns zur Bekantmachung der&#x017F;elben auf-<lb/>
fodert. Wo keine Verbindlichkeit &#x017F;tat findet, da<lb/>
findet auch kein Unrecht &#x017F;tat. Zu &#x017F;chweigen al&#x017F;o,<lb/>
wenn keine un&#x017F;erer natu&#x0364;rlichen oder ge&#x017F;el&#x017F;chaft-<lb/>
lichen Pflichten uns zu reden gebietet, kann nie-<lb/>
mahls unrecht genant werden, kan im Gegentheil<lb/>
oft gut und wei&#x017F;e und pflichtma&#x0364;ßig &#x017F;ein. Es<lb/>
gibt der Wahrheiten viele, deren unvor&#x017F;ichtige<lb/>
Bekantmachung fu&#x0364;r Selen von gewo&#x0364;hnlichem<lb/>
Schlage eben &#x017F;o verderblich &#x017F;ein wu&#x0364;rde, als die<lb/>
plo&#x0364;zliche Einla&#x017F;&#x017F;ung des hellen Tageslichts fu&#x0364;r<lb/>
diejenigen zu &#x017F;ein pflegt, welche lange Zeit im<lb/>
Fin&#x017F;tern lebten, oder denen man &#x017F;o eben er&#x017F;t<lb/>
den Staar ge&#x017F;tochen hat. Auch in der phi&#x017F;i&#x017F;chen<lb/>
Welt la&#x0364;ßt Gott nie auf einmahl Tag werden;<lb/>
er&#x017F;t Nacht, dan &#x017F;chwache Da&#x0364;mmerung, dan<lb/>
Morgenroth, und dan er&#x017F;t Tag! So &#x017F;ol es in<lb/>
dem Reiche der Wahrheit auch &#x017F;ein. Wer hier<lb/>
auf einmahl Tag machen wolte, der wu&#x0364;rde vielen<lb/>
men&#x017F;chlichen Selen das bischen Sehkraft, das<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">ihnen</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[118/0148] Die erſte und verzeihlichſte unter allen iſt die bloße Verheimligung der Wahrheit in allen denjenigen Faͤllen, in welchen keine einzige unſrer Pflichten uns zur Bekantmachung derſelben auf- fodert. Wo keine Verbindlichkeit ſtat findet, da findet auch kein Unrecht ſtat. Zu ſchweigen alſo, wenn keine unſerer natuͤrlichen oder geſelſchaft- lichen Pflichten uns zu reden gebietet, kann nie- mahls unrecht genant werden, kan im Gegentheil oft gut und weiſe und pflichtmaͤßig ſein. Es gibt der Wahrheiten viele, deren unvorſichtige Bekantmachung fuͤr Selen von gewoͤhnlichem Schlage eben ſo verderblich ſein wuͤrde, als die ploͤzliche Einlaſſung des hellen Tageslichts fuͤr diejenigen zu ſein pflegt, welche lange Zeit im Finſtern lebten, oder denen man ſo eben erſt den Staar geſtochen hat. Auch in der phiſiſchen Welt laͤßt Gott nie auf einmahl Tag werden; erſt Nacht, dan ſchwache Daͤmmerung, dan Morgenroth, und dan erſt Tag! So ſol es in dem Reiche der Wahrheit auch ſein. Wer hier auf einmahl Tag machen wolte, der wuͤrde vielen menſchlichen Selen das bischen Sehkraft, das ihnen

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/campe_theophron01_1783
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/campe_theophron01_1783/148
Zitationshilfe: Campe, Joachim Heinrich: Theophron oder der erfahrne Rathgeber für die unerfahrne Jugend. Bd. 1. Hamburg, 1783, S. 118. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/campe_theophron01_1783/148>, abgerufen am 24.11.2024.