ben, mit der Beweglichkeit der Seele, mit der Lebendigkeit der aufeinanderfolgenden Momente; dort, wo der Maler oder der Bildhauer nur eine Seite oder einen Augenblick, eine "Situation" darstellen kann und der Dichter ein Tem- perament und dessen Regungen mühsam durch angereihte Worte mitteilt.
Darum sind Darstellung und Beschreibung nicht das Wesen der Tonkunst; somit sprechen wir die Ablehnung der Programmusik aus und gelangen zu der Frage nach den Zielen der Tonkunst.
Absolute Musik! Bereits im 18. Jahrhundert entstanden, war der Begriff "absolute Musik" Gegenstand musikästhetischer Diskurse des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts. Wesentlich geprägt wurde die Formulierung 1854 durch Hanslicks musikästhetische Schrift Vom Musikalisch-Schönen, nach welcher diejenige Musik als "absolut" zu bezeichnen ist, die sich unabhängig von außermusikalischen Elementen konstituiert und lediglich aus ihrer kompositorischen Anlage heraus legitimiert. Darüber hinaus ist nach Hanslick nur Instrumentalmusik "absolut" - eine Definition, die für Busonis Verständnis von absoluter Musik nicht hinreicht (Freiheit von den Bedingungen der Materie). Was die Gesetzgeber darunter meinen, ist vielleicht das Entfernteste vom Absoluten in der Musik. "Absolute Musik" ist ein Formenspiel ohne dichterisches Pro- gramm, wobei die Form die wichtigste Rolle abgibt. Aber gerade die Form steht der absoluten Musik entgegengesetzt, die doch den göttlichen Vorzug erhielt zu schweben und von den Bedingungen der Materie frei zu sein. Auf dem Bilde endet die Darstellung eines Sonnenunterganges mit dem Rahmen; die unbegrenzte Naturerscheinung erhält eine vier- eckige Abgrenzung; die einmal gewählte Zeichnung der Wolke steht für immer unveränderlich da. Die Musik kann sich erhellen, sich verdunkeln, sich verschieben und endlich ver- hauchen wie die Himmelserscheinung selbst, und der Instinkt bestimmt den schaffenden Musiker, diejenigen Töne zu ver- wenden, die in dem Innern des Menschen auf dieselbe Taste drücken und denselben Widerhall erwecken, wie die Vorgänge in der Natur.
Absolute Musik ist dagegen etwas ganz Nüchternes, welches an geordnet aufgestellte Notenpulte erinnert, an Verhältnis von Tonika und Dominante, an Durchführungen und Kodas.
ben, mit der Beweglichkeit der Seele, mit der Lebendigkeit der aufeinanderfolgenden Momente; dort, wo der Maler oder der Bildhauer nur eine Seite oder einen Augenblick, eine „Situation“ darstellen kann und der Dichter ein Tem- perament und dessen Regungen mühsam durch angereihte Worte mitteilt.
Darum sind Darstellung und Beschreibung nicht das Wesen der Tonkunst; somit sprechen wir die Ablehnung der Programmusik aus und gelangen zu der Frage nach den Zielen der Tonkunst.
Absolute Musik! Bereits im 18. Jahrhundert entstanden, war der Begriff „absolute Musik“ Gegenstand musikästhetischer Diskurse des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts. Wesentlich geprägt wurde die Formulierung 1854 durch Hanslicks musikästhetische Schrift Vom Musikalisch-Schönen, nach welcher diejenige Musik als „absolut“ zu bezeichnen ist, die sich unabhängig von außermusikalischen Elementen konstituiert und lediglich aus ihrer kompositorischen Anlage heraus legitimiert. Darüber hinaus ist nach Hanslick nur Instrumentalmusik „absolut“ – eine Definition, die für Busonis Verständnis von absoluter Musik nicht hinreicht (Freiheit von den Bedingungen der Materie). Was die Gesetzgeber darunter meinen, ist vielleicht das Entfernteste vom Absoluten in der Musik. „Absolute Musik“ ist ein Formenspiel ohne dichterisches Pro- gramm, wobei die Form die wichtigste Rolle abgibt. Aber gerade die Form steht der absoluten Musik entgegengesetzt, die doch den göttlichen Vorzug erhielt zu schweben und von den Bedingungen der Materie frei zu sein. Auf dem Bilde endet die Darstellung eines Sonnenunterganges mit dem Rahmen; die unbegrenzte Naturerscheinung erhält eine vier- eckige Abgrenzung; die einmal gewählte Zeichnung der Wolke steht für immer unveränderlich da. Die Musik kann sich erhellen, sich verdunkeln, sich verschieben und endlich ver- hauchen wie die Himmelserscheinung selbst, und der Instinkt bestimmt den schaffenden Musiker, diejenigen Töne zu ver- wenden, die in dem Innern des Menschen auf dieselbe Taste drücken und denselben Widerhall erwecken, wie die Vorgänge in der Natur.
Absolute Musik ist dagegen etwas ganz Nüchternes, welches an geordnet aufgestellte Notenpulte erinnert, an Verhältnis von Tonika und Dominante, an Durchführungen und Kodas.
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[9/0009]
ben, mit der Beweglichkeit der Seele, mit der Lebendigkeit
der aufeinanderfolgenden Momente; dort, wo der Maler
oder der Bildhauer nur eine Seite oder einen Augenblick,
eine „Situation“ darstellen kann und der Dichter ein Tem-
perament und dessen Regungen mühsam durch angereihte
Worte mitteilt.
Darum sind Darstellung und Beschreibung nicht das
Wesen der Tonkunst; somit sprechen wir die Ablehnung der
Programmusik aus und gelangen zu der Frage nach den
Zielen der Tonkunst.
Absolute Musik! Was die Gesetzgeber darunter meinen,
ist vielleicht das Entfernteste vom Absoluten in der Musik.
„Absolute Musik“ ist ein Formenspiel ohne dichterisches Pro-
gramm, wobei die Form die wichtigste Rolle abgibt. Aber
gerade die Form steht der absoluten Musik entgegengesetzt,
die doch den göttlichen Vorzug erhielt zu schweben und von
den Bedingungen der Materie frei zu sein. Auf dem Bilde
endet die Darstellung eines Sonnenunterganges mit dem
Rahmen; die unbegrenzte Naturerscheinung erhält eine vier-
eckige Abgrenzung; die einmal gewählte Zeichnung der
Wolke steht für immer unveränderlich da. Die Musik kann
sich erhellen, sich verdunkeln, sich verschieben und endlich ver-
hauchen wie die Himmelserscheinung selbst, und der Instinkt
bestimmt den schaffenden Musiker, diejenigen Töne zu ver-
wenden, die in dem Innern des Menschen auf dieselbe
Taste drücken und denselben Widerhall erwecken, wie die
Vorgänge in der Natur.
Absolute Musik ist dagegen etwas ganz Nüchternes, welches
an geordnet aufgestellte Notenpulte erinnert, an Verhältnis
von Tonika und Dominante, an Durchführungen und Kodas.
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Christian Schaper, Maximilian Furthmüller, Theresa Menard, Vanda Hehr, Clemens Gubsch, Claudio Fuchs, Jupp Wegner, David Mews, Ullrich Scheideler: Bearbeitung der digitalen Edition.
(2019-05-27T13:49:52Z)
Benjamin Fiechter: Konvertierung ins DTA-Basisformat
(2019-05-27T13:49:52Z)
Weitere Informationen:
Textgrundlage von 1906 von Busoni hauptsächlich 1914 überarbeitet. Gedruckt 1916 in Altenburg; erschienen im Insel-Verlag zu Leipzig als Nr. 202 der Insel-Bücherei.
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Busoni, Ferruccio: Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst. 2. Aufl. Leipzig, [1916], S. 9. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/busoni_entwurf_1916/9>, abgerufen am 16.07.2024.
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