Daß schon einige empfunden haben, wie die Intervalle der Siebenfolge noch anders geordnet (graduiert) werden können, ist in vereinzelten Momenten bereits bei Liszt und in der heutigen musikalischen Vorwärtsbewegung ausge- sprochener zur Erscheinung gekommen. Der Drang und die Sehnsucht und der begabte Instinkt sprechen daraus. Doch scheints mir nicht, daß eine bewußte und geordnete Vor- stellung dieser erhöhten Ausdrucksmittel sich geformt habe.
Ich habe den Versuch gemacht, alle Möglichkeiten der Abstufung der Siebenfolge zu gewinnen, und es gelang mir, durch Erniedrigung und Erhöhung der Intervalle 113 ver- schiedene Skalen festzustellen. Diese 113 Skalen (inner- halb der Oktave C-C) begreifen den größten Teil der bekannten "24 Tonarten", außerdem aber eine Reihe neuer Tonarten von eigenartigem Charakter. Damit ist aber der Schatz nicht erschöpft, denn die "Transposition" jeder ein- zelnen dieser 113 steht uns ebenfalls noch offen und über- dies die Vermischung zweier (und weshalb nicht mehrerer?) solcher Tonarten in Harmonie und Melodie. Ob die Zahl 113 hier eine Übertreibung Busonis darstellt, ist schwer zu sagen. Eine genauere algorithmische Betrachtung des Problems zeigt, dass unter Zuhilfenahme aller zwölf gleichstufigen Halbtöne innerhalb einer Oktave 729 siebentönige aufsteigende Skalen kombiniert werden können. Nach Eliminierung der in der Intervallstruktur identischen Skalen und Analyse der Tonleitern bezüglich nicht leitertypischer Elemente (z. B. chromatischer Passagen und aufeinanderfolgender Terzen) bleiben 59 siebentönige aufsteigende Skalen übrig. Mit 113 ist Busoni weder nahe an der einen noch an der anderen Zahl, was die Frage aufwirft, welche Ansprüche Busoni an eine solche von ihm neu erdachte Leiter überhaupt hat.
Die Skala c des es fes ges as b c klingt schon bedeutend anders als die des -Moll-Tonleiter, wenn man c als ihren Grundton annimmt. Legt man ihr noch den gewöhnlichen C -Dur-Dreiklang als Harmonie unter, so ergibt sich eine neue harmonische Empfindung. Man höre aber dieselbe Ton- leiter abwechselnd, vom A -Moll-, Es -Dur- und C -Dur- Dreiklang gestützt, und man wird sich der angenehmsten Über- raschung über den fremdartigen Wohllaut nicht erwehren können.
Wohin aber würde ein Gesetzgeber die Tonfolgen c des es fes g a h c | c des es f ges a h c | c d es fes ges a h c | c des e f ges a b c | oder gar: c d es fes g
Daß schon einige empfunden haben, wie die Intervalle der Siebenfolge noch anders geordnet (graduiert) werden können, ist in vereinzelten Momenten bereits bei Liszt und in der heutigen musikalischen Vorwärtsbewegung ausge- sprochener zur Erscheinung gekommen. Der Drang und die Sehnsucht und der begabte Instinkt sprechen daraus. Doch scheints mir nicht, daß eine bewußte und geordnete Vor- stellung dieser erhöhten Ausdrucksmittel sich geformt habe.
Ich habe den Versuch gemacht, alle Möglichkeiten der Abstufung der Siebenfolge zu gewinnen, und es gelang mir, durch Erniedrigung und Erhöhung der Intervalle 113 ver- schiedene Skalen festzustellen. Diese 113 Skalen (inner- halb der Oktave C–C) begreifen den größten Teil der bekannten „24 Tonarten“, außerdem aber eine Reihe neuer Tonarten von eigenartigem Charakter. Damit ist aber der Schatz nicht erschöpft, denn die „Transposition“ jeder ein- zelnen dieser 113 steht uns ebenfalls noch offen und über- dies die Vermischung zweier (und weshalb nicht mehrerer?) solcher Tonarten in Harmonie und Melodie. Ob die Zahl 113 hier eine Übertreibung Busonis darstellt, ist schwer zu sagen. Eine genauere algorithmische Betrachtung des Problems zeigt, dass unter Zuhilfenahme aller zwölf gleichstufigen Halbtöne innerhalb einer Oktave 729 siebentönige aufsteigende Skalen kombiniert werden können. Nach Eliminierung der in der Intervallstruktur identischen Skalen und Analyse der Tonleitern bezüglich nicht leitertypischer Elemente (z. B. chromatischer Passagen und aufeinanderfolgender Terzen) bleiben 59 siebentönige aufsteigende Skalen übrig. Mit 113 ist Busoni weder nahe an der einen noch an der anderen Zahl, was die Frage aufwirft, welche Ansprüche Busoni an eine solche von ihm neu erdachte Leiter überhaupt hat.
Die Skala c des es fes ges as b c klingt schon bedeutend anders als die des -Moll-Tonleiter, wenn man c als ihren Grundton annimmt. Legt man ihr noch den gewöhnlichen C -Dur-Dreiklang als Harmonie unter, so ergibt sich eine neue harmonische Empfindung. Man höre aber dieselbe Ton- leiter abwechselnd, vom A -Moll-, Es -Dur- und C -Dur- Dreiklang gestützt, und man wird sich der angenehmsten Über- raschung über den fremdartigen Wohllaut nicht erwehren können.
Wohin aber würde ein Gesetzgeber die Tonfolgen c des es fes g a h c | c des es f ges a h c | c d es fes ges a h c | c des e f ges a b c | oder gar: c d es fes g
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der Siebenfolge noch anders geordnet (graduiert) werden
können, ist in vereinzelten Momenten bereits bei Liszt und
in der heutigen musikalischen Vorwärtsbewegung ausge-
sprochener zur Erscheinung gekommen. Der Drang und
die Sehnsucht und der begabte Instinkt sprechen daraus.
Doch scheints mir nicht, daß eine bewußte und geordnete Vor-
stellung dieser erhöhten Ausdrucksmittel sich geformt habe.
Ich habe den Versuch gemacht, alle Möglichkeiten der
Abstufung der Siebenfolge zu gewinnen, und es gelang mir,
durch Erniedrigung und Erhöhung der Intervalle 113 ver-
schiedene Skalen festzustellen. Diese 113 Skalen (inner-
halb der Oktave C–C) begreifen den größten Teil der
bekannten „24 Tonarten“, außerdem aber eine Reihe neuer
Tonarten von eigenartigem Charakter. Damit ist aber der
Schatz nicht erschöpft, denn die „Transposition“ jeder ein-
zelnen dieser 113 steht uns ebenfalls noch offen und über-
dies die Vermischung zweier (und weshalb nicht mehrerer?)
solcher Tonarten in Harmonie und Melodie.
Die Skala c des es fes ges as b c klingt schon bedeutend
anders als die des -Moll-Tonleiter, wenn man c als ihren
Grundton annimmt. Legt man ihr noch den gewöhnlichen
C -Dur-Dreiklang als Harmonie unter, so ergibt sich eine
neue harmonische Empfindung. Man höre aber dieselbe Ton-
leiter abwechselnd, vom A -Moll-, Es -Dur- und C -Dur-
Dreiklang gestützt, und man wird sich der angenehmsten Über-
raschung über den fremdartigen Wohllaut nicht erwehren
können.
Wohin aber würde ein Gesetzgeber die Tonfolgen c des
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Christian Schaper, Maximilian Furthmüller, Theresa Menard, Vanda Hehr, Clemens Gubsch, Claudio Fuchs, Jupp Wegner, David Mews, Ullrich Scheideler: Bearbeitung der digitalen Edition.
(2019-05-27T13:49:52Z)
Benjamin Fiechter: Konvertierung ins DTA-Basisformat
(2019-05-27T13:49:52Z)
Weitere Informationen:
Textgrundlage von 1906 von Busoni hauptsächlich 1914 überarbeitet. Gedruckt 1916 in Altenburg; erschienen im Insel-Verlag zu Leipzig als Nr. 202 der Insel-Bücherei.
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Busoni, Ferruccio: Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst. 2. Aufl. Leipzig, [1916], S. 41. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/busoni_entwurf_1916/41>, abgerufen am 16.07.2024.
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