Busoni, Ferruccio: Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst. 2. Aufl. Leipzig, [1916].Plötzlich, eines Tages, schien es mir klar geworden: daß Vergeblich wird jeder freie Flugversuch des Komponisten niederster Kunst. Und Beethoven selbst. Ist das Thema des Finale der "fünften" ein anderes als jenes, womit die "zweite" ihr Allegro ansagt? Und als das Hauptmotiv des dritten Klavierkonzerts, diesmal in Moll? - 1 Und das ist das Siegreiche in Beethoven, daß er von allen "mo-
dernen" Tondichtern am wenigsten den Forderungen der Instrumente nachgab. Hingegen ist es nicht zu leugnen, daß Wagner einen "Po- saunensatz" geprägt hat, der - seit ihm - in den Partituren ständige Wohnung nahm. Plötzlich, eines Tages, schien es mir klar geworden: daß Vergeblich wird jeder freie Flugversuch des Komponisten niederster Kunst. Und Beethoven selbst. Ist das Thema des Finale der „fünften“ ein anderes als jenes, womit die „zweite“ ihr Allegro ansagt? Und als das Hauptmotiv des dritten Klavierkonzerts, diesmal in Moll? – 1 Und das ist das Siegreiche in Beethoven, daß er von allen „mo-
dernen“ Tondichtern am wenigsten den Forderungen der Instrumente nachgab. Hingegen ist es nicht zu leugnen, daß Wagner einen „Po- saunensatz“ geprägt hat, der – seit ihm – in den Partituren ständige Wohnung nahm. <TEI> <text> <body> <div> <pb facs="#f0034" n="34"/> <p>Plötzlich, eines Tages, schien es mir klar geworden: daß<lb/> die Entfaltung der Tonkunst an unseren Musikinstrumenten<lb/> scheitert. Die Entfaltung des Komponisten an dem Stu-<lb/> dium der Partituren. Wenn „Schaffen“, wie ich es de-<lb/> finierte, ein „Formen aus dem Nichts“ bedeuten soll (und es<lb/> kann nichts anderes bedeuten); – wenn Musik – (dieses<lb/> habe ich jedenfalls ausgesprochen) – zur „Originalität“,<lb/> nämlich zu ihrem eigenen reinen Wesen zurückstreben soll<lb/> (ein „Zurück“, das das eigentliche „Vorwärts“ sein muß);<lb/> – wenn sie Konventionen und Formeln wie ein verbrauch-<lb/> tes Gewand ablegen und in schöner Nacktheit prangen soll;<lb/> – diesem Drange stehen die musikalischen Werkzeuge zu-<lb/> nächst im Wege. Die Instrumente sind an ihren Umfang,<lb/> ihre Klangart und ihre Ausführungsmöglichkeiten festge-<lb/> kettet, und ihre hundert Ketten müssen den Schaffenwollen-<lb/> den mitfesseln.</p><lb/> <p>Vergeblich wird jeder freie Flugversuch des Komponisten<lb/> sein; in den allerneuesten Partituren und noch in solchen<lb/> der nächsten Zukunft werden wir immer wieder auf die Eigen-<lb/> tümlichkeiten der Klarinetten, Posaunen und Geigen stoßen,<lb/> die eben nicht anders sich gebärden können, als es in ihrer<lb/> Beschränkung liegt; <note place="foot" n="1"><p>Und das ist das Siegreiche in <persName>Beethoven</persName>, daß er von allen „mo-<lb/> dernen“ Tondichtern am wenigsten den Forderungen der Instrumente<lb/> nachgab. Hingegen ist es nicht zu leugnen, daß <persName>Wagner</persName> einen „Po-<lb/> saunensatz“ geprägt hat, der – seit ihm – in den Partituren ständige<lb/> Wohnung nahm.</p><lb/></note> dazu gesellt sich die Manieriertheit<lb/> der Instrumentalisten in der Behandlung ihres Instrumen-<lb/> tes; der vibrierende Überschwang des Violoncells, der<lb/><note xml:id="spielerei2" prev="#spielerei1" place="foot" n="1"><p>niederster Kunst. Und <persName>Beethoven</persName> selbst. Ist das Thema des Finale der<lb/> „fünften“ ein anderes als jenes, womit die „zweite“ ihr Allegro ansagt?<lb/> Und als das Hauptmotiv des <title type="main">dritten Klavierkonzerts</title>, diesmal in Moll? –</p><lb/></note> </p> </div> </body> </text> </TEI> [34/0034]
Plötzlich, eines Tages, schien es mir klar geworden: daß
die Entfaltung der Tonkunst an unseren Musikinstrumenten
scheitert. Die Entfaltung des Komponisten an dem Stu-
dium der Partituren. Wenn „Schaffen“, wie ich es de-
finierte, ein „Formen aus dem Nichts“ bedeuten soll (und es
kann nichts anderes bedeuten); – wenn Musik – (dieses
habe ich jedenfalls ausgesprochen) – zur „Originalität“,
nämlich zu ihrem eigenen reinen Wesen zurückstreben soll
(ein „Zurück“, das das eigentliche „Vorwärts“ sein muß);
– wenn sie Konventionen und Formeln wie ein verbrauch-
tes Gewand ablegen und in schöner Nacktheit prangen soll;
– diesem Drange stehen die musikalischen Werkzeuge zu-
nächst im Wege. Die Instrumente sind an ihren Umfang,
ihre Klangart und ihre Ausführungsmöglichkeiten festge-
kettet, und ihre hundert Ketten müssen den Schaffenwollen-
den mitfesseln.
Vergeblich wird jeder freie Flugversuch des Komponisten
sein; in den allerneuesten Partituren und noch in solchen
der nächsten Zukunft werden wir immer wieder auf die Eigen-
tümlichkeiten der Klarinetten, Posaunen und Geigen stoßen,
die eben nicht anders sich gebärden können, als es in ihrer
Beschränkung liegt; 1 dazu gesellt sich die Manieriertheit
der Instrumentalisten in der Behandlung ihres Instrumen-
tes; der vibrierende Überschwang des Violoncells, der
1
1 Und das ist das Siegreiche in Beethoven, daß er von allen „mo-
dernen“ Tondichtern am wenigsten den Forderungen der Instrumente
nachgab. Hingegen ist es nicht zu leugnen, daß Wagner einen „Po-
saunensatz“ geprägt hat, der – seit ihm – in den Partituren ständige
Wohnung nahm.
1 niederster Kunst. Und Beethoven selbst. Ist das Thema des Finale der
„fünften“ ein anderes als jenes, womit die „zweite“ ihr Allegro ansagt?
Und als das Hauptmotiv des dritten Klavierkonzerts, diesmal in Moll? –
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Zitationshilfe: | Busoni, Ferruccio: Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst. 2. Aufl. Leipzig, [1916], S. 34. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/busoni_entwurf_1916/34>, abgerufen am 17.02.2025. |