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Busoni, Ferruccio: Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst. 2. Aufl. Leipzig, [1916].

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Läge es nun in der Macht der Gesetzgeber, so müßte ein
und dasselbe Tonstück stets in ein und demselben Zeitmaß
erklingen, sooft, von wem und unter welchen Bedingungen
es auch gespielt würde.

Es ist aber nicht möglich, die schwebende expansive Natur

man folgern - in der an sich traumhaften und transzendentalen Kunst
der Töne erst recht die geeignete Sprache und Wirkung finden müssen.
Die Schleier der Mystik, das innere Klingen der Natur, die Schauer
des Übernatürlichen, die dämmerigen Unbestimmtheiten der schlaf-
wachenden Bilder - alles, was er mit dem präzisen Wort schon so
eindrucksvoll schilderte, das hätte er - man sollte denken - durch die
Musik erst völlig lebendig erstehen lassen. Man vergleiche dagegen
Hoffmanns bestes musikalisches Werk mit der schwächsten seiner literari-
schen Produktionen, und man wird mit Trauer wahrnehmen, wie ein über-
nommenes System von Taktarten, Perioden und Tonarten - zu dem
noch der landläufige Opernstil der Zeit das Seinige tut - aus dem
Dichter einen Philister machen konnte. Wie aber ein anderes Ideal
der Musik ihm vorschwebte, entnehmen wir aus vielen und oft ausge-
zeichneten Bemerkungen des Schriftstellers selbst. Von ihnen schließt
die folgende der Denkungsart dieses Büchleins am engsten sich an:
"Nun! immer weiter fort und fort treibt der waltende Weltgeist; nie
kehren die verschwundenen Gestalten, so wie sie sich in der Lust des Lebens
bewegten, wieder: aber ewig, unvergänglich ist das Wahrhaftige, und
eine wunderbare Geistergemeinschaft schmiegt ihr geheimnisvolles Band
um Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Noch leben geistig die
alten hohen Meister; nicht verklungen sind ihre Gesänge: nur nicht
vernommen wurden sie im brausenden, tosenden Geräusch des ausge-
lassenen wilden Treibens, das über uns einbrach. Mag die Zeit der
Erfüllung unseres Hoffens nicht mehr fern sein, mag ein frommes Leben
in Friede und Freudigkeit beginnen und die Musik frei und kräftig ihre
Seraphschwingen regen, um aufs neue den Flug zu dem Jenseits zu
beginnen, das ihre Heimat ist und von welchem Trost und Heil in die
unruhevolle Brust des Menschen hinabstrahlt."

(E. T. A. Hoffmann, "Die Serapionsbrüder".)

Läge es nun in der Macht der Gesetzgeber, so müßte ein
und dasselbe Tonstück stets in ein und demselben Zeitmaß
erklingen, sooft, von wem und unter welchen Bedingungen
es auch gespielt würde.

Es ist aber nicht möglich, die schwebende expansive Natur

man folgern – in der an sich traumhaften und transzendentalen Kunst
der Töne erst recht die geeignete Sprache und Wirkung finden müssen.
Die Schleier der Mystik, das innere Klingen der Natur, die Schauer
des Übernatürlichen, die dämmerigen Unbestimmtheiten der schlaf-
wachenden Bilder – alles, was er mit dem präzisen Wort schon so
eindrucksvoll schilderte, das hätte er – man sollte denken – durch die
Musik erst völlig lebendig erstehen lassen. Man vergleiche dagegen
Hoffmanns bestes musikalisches Werk mit der schwächsten seiner literari-
schen Produktionen, und man wird mit Trauer wahrnehmen, wie ein über-
nommenes System von Taktarten, Perioden und Tonarten – zu dem
noch der landläufige Opernstil der Zeit das Seinige tut – aus dem
Dichter einen Philister machen konnte. Wie aber ein anderes Ideal
der Musik ihm vorschwebte, entnehmen wir aus vielen und oft ausge-
zeichneten Bemerkungen des Schriftstellers selbst. Von ihnen schließt
die folgende der Denkungsart dieses Büchleins am engsten sich an:
„Nun! immer weiter fort und fort treibt der waltende Weltgeist; nie
kehren die verschwundenen Gestalten, so wie sie sich in der Lust des Lebens
bewegten, wieder: aber ewig, unvergänglich ist das Wahrhaftige, und
eine wunderbare Geistergemeinschaft schmiegt ihr geheimnisvolles Band
um Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Noch leben geistig die
alten hohen Meister; nicht verklungen sind ihre Gesänge: nur nicht
vernommen wurden sie im brausenden, tosenden Geräusch des ausge-
lassenen wilden Treibens, das über uns einbrach. Mag die Zeit der
Erfüllung unseres Hoffens nicht mehr fern sein, mag ein frommes Leben
in Friede und Freudigkeit beginnen und die Musik frei und kräftig ihre
Seraphschwingen regen, um aufs neue den Flug zu dem Jenseits zu
beginnen, das ihre Heimat ist und von welchem Trost und Heil in die
unruhevolle Brust des Menschen hinabstrahlt.“

(E. T. A. Hoffmann, „Die Serapionsbrüder“.)
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[21/0021] Läge es nun in der Macht der Gesetzgeber, so müßte ein und dasselbe Tonstück stets in ein und demselben Zeitmaß erklingen, sooft, von wem und unter welchen Bedingungen es auch gespielt würde. Es ist aber nicht möglich, die schwebende expansive Natur 1 1 man folgern – in der an sich traumhaften und transzendentalen Kunst der Töne erst recht die geeignete Sprache und Wirkung finden müssen. Die Schleier der Mystik, das innere Klingen der Natur, die Schauer des Übernatürlichen, die dämmerigen Unbestimmtheiten der schlaf- wachenden Bilder – alles, was er mit dem präzisen Wort schon so eindrucksvoll schilderte, das hätte er – man sollte denken – durch die Musik erst völlig lebendig erstehen lassen. Man vergleiche dagegen Hoffmanns bestes musikalisches Werk mit der schwächsten seiner literari- schen Produktionen, und man wird mit Trauer wahrnehmen, wie ein über- nommenes System von Taktarten, Perioden und Tonarten – zu dem noch der landläufige Opernstil der Zeit das Seinige tut – aus dem Dichter einen Philister machen konnte. Wie aber ein anderes Ideal der Musik ihm vorschwebte, entnehmen wir aus vielen und oft ausge- zeichneten Bemerkungen des Schriftstellers selbst. Von ihnen schließt die folgende der Denkungsart dieses Büchleins am engsten sich an: „Nun! immer weiter fort und fort treibt der waltende Weltgeist; nie kehren die verschwundenen Gestalten, so wie sie sich in der Lust des Lebens bewegten, wieder: aber ewig, unvergänglich ist das Wahrhaftige, und eine wunderbare Geistergemeinschaft schmiegt ihr geheimnisvolles Band um Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Noch leben geistig die alten hohen Meister; nicht verklungen sind ihre Gesänge: nur nicht vernommen wurden sie im brausenden, tosenden Geräusch des ausge- lassenen wilden Treibens, das über uns einbrach. Mag die Zeit der Erfüllung unseres Hoffens nicht mehr fern sein, mag ein frommes Leben in Friede und Freudigkeit beginnen und die Musik frei und kräftig ihre Seraphschwingen regen, um aufs neue den Flug zu dem Jenseits zu beginnen, das ihre Heimat ist und von welchem Trost und Heil in die unruhevolle Brust des Menschen hinabstrahlt.“ (E. T. A. Hoffmann, „Die Serapionsbrüder“.)

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Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Ferruccio Busoni – Briefe und Schriften, herausgegeben von Christian Schaper und Ullrich Scheideler, Humboldt-Universität zu Berlin: Bereitstellung der Texttranskription. (2019-05-15T13:49:52Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Christian Schaper, Maximilian Furthmüller, Theresa Menard, Vanda Hehr, Clemens Gubsch, Claudio Fuchs, Jupp Wegner, David Mews, Ullrich Scheideler: Bearbeitung der digitalen Edition. (2019-05-27T13:49:52Z)
Benjamin Fiechter: Konvertierung ins DTA-Basisformat (2019-05-27T13:49:52Z)

Weitere Informationen:

Textgrundlage von 1906 von Busoni hauptsächlich 1914 überarbeitet. Gedruckt 1916 in Altenburg; erschienen im Insel-Verlag zu Leipzig als Nr. 202 der Insel-Bücherei.

Die Transkription erfolgte nach den unter https://www.busoni-nachlass.org/de/Projekt/E1000003.html, http://www.deutschestextarchiv.de/doku/basisformat/ formulierten Richtlinien.

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Zitationshilfe: Busoni, Ferruccio: Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst. 2. Aufl. Leipzig, [1916], S. 21. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/busoni_entwurf_1916/21>, abgerufen am 21.11.2024.