Selbst eine und dieselbe Pflanzengattung wächst an Aus- dehnung, Gestalt und Kraft, in jedem Exemplar selbständig geartet. So liegt in jedem Motiv schon seine vollgereifte Form vorbestimmt; jedes einzelne muß sich anders entfalten, doch jedes folgt darin der Notwendigkeit der ewigen Har- monie. Diese Form bleibt unzerstörbar, doch niemals sich gleich.
Das Klangmotiv des programmusikalischen Werkes birgt die nämlichen Bedingungen in sich; es muß aber - schon bei seiner nächsten Entwicklungsphase - sich nicht nach dem eigenen Gesetz, sondern nach dem des "Program- mes" formen, vielmehr "krümmen". Dergestalt, gleich in der ersten Bildung aus dem naturgesetzlichen Wege ge- bracht, gelangt es schließlich zu einem ganz unerwarteten Gipfel, wohin nicht seine Organisation, sondern das Pro- gramm, die Handlung, die philosophische Idee vorsätzlich es geführt.
Fürwahr, eine begrenzte, primitive Kunst! Gewiß gibt es nicht mißzudeutende, tonmalende Ausdrücke - (sie haben die Veranlassung zu dem ganzen Prinzip gegeben) -, aber es sind wenige und kleine Mittel, die einen ganz geringen Teil der Tonkunst ausmachen. Das wahrnehmbarste von ihnen, die Erniedrigung des Klanges zu Schall, bei Nach- ahmung von Naturgeräuschen: das Rollen des Don- ners, das Rauschen der Bäume und die Tierlaute; und schon weniger wahrnehmbar, symbolisch, die dem Gesichts- sinn entnommenen Nachbildungen, wie Blitzesleuchten, Sprungbewegungen, Vogelflug; nur durch Übertragung des reflektierenden Gehirns verständlich: das Trompeten- signal als kriegerisches Symbol, die Schalmei als ländliches
Selbst eine und dieselbe Pflanzengattung wächst an Aus- dehnung, Gestalt und Kraft, in jedem Exemplar selbständig geartet. So liegt in jedem Motiv schon seine vollgereifte Form vorbestimmt; jedes einzelne muß sich anders entfalten, doch jedes folgt darin der Notwendigkeit der ewigen Har- monie. Diese Form bleibt unzerstörbar, doch niemals sich gleich.
Das Klangmotiv des programmusikalischen Werkes birgt die nämlichen Bedingungen in sich; es muß aber – schon bei seiner nächsten Entwicklungsphase – sich nicht nach dem eigenen Gesetz, sondern nach dem des „Program- mes“ formen, vielmehr „krümmen“. Dergestalt, gleich in der ersten Bildung aus dem naturgesetzlichen Wege ge- bracht, gelangt es schließlich zu einem ganz unerwarteten Gipfel, wohin nicht seine Organisation, sondern das Pro- gramm, die Handlung, die philosophische Idee vorsätzlich es geführt.
Fürwahr, eine begrenzte, primitive Kunst! Gewiß gibt es nicht mißzudeutende, tonmalende Ausdrücke – (sie haben die Veranlassung zu dem ganzen Prinzip gegeben) –, aber es sind wenige und kleine Mittel, die einen ganz geringen Teil der Tonkunst ausmachen. Das wahrnehmbarste von ihnen, die Erniedrigung des Klanges zu Schall, bei Nach- ahmung von Naturgeräuschen: das Rollen des Don- ners, das Rauschen der Bäume und die Tierlaute; und schon weniger wahrnehmbar, symbolisch, die dem Gesichts- sinn entnommenen Nachbildungen, wie Blitzesleuchten, Sprungbewegungen, Vogelflug; nur durch Übertragung des reflektierenden Gehirns verständlich: das Trompeten- signal als kriegerisches Symbol, die Schalmei als ländliches
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Selbst eine und dieselbe Pflanzengattung wächst an Aus-
dehnung, Gestalt und Kraft, in jedem Exemplar selbständig
geartet. So liegt in jedem Motiv schon seine vollgereifte
Form vorbestimmt; jedes einzelne muß sich anders entfalten,
doch jedes folgt darin der Notwendigkeit der ewigen Har-
monie. Diese Form bleibt unzerstörbar, doch niemals sich
gleich.
Das Klangmotiv des programmusikalischen Werkes
birgt die nämlichen Bedingungen in sich; es muß aber –
schon bei seiner nächsten Entwicklungsphase – sich nicht
nach dem eigenen Gesetz, sondern nach dem des „Program-
mes“ formen, vielmehr „krümmen“. Dergestalt, gleich in
der ersten Bildung aus dem naturgesetzlichen Wege ge-
bracht, gelangt es schließlich zu einem ganz unerwarteten
Gipfel, wohin nicht seine Organisation, sondern das Pro-
gramm, die Handlung, die philosophische Idee vorsätzlich es
geführt.
Fürwahr, eine begrenzte, primitive Kunst! Gewiß gibt
es nicht mißzudeutende, tonmalende Ausdrücke – (sie haben
die Veranlassung zu dem ganzen Prinzip gegeben) –, aber
es sind wenige und kleine Mittel, die einen ganz geringen
Teil der Tonkunst ausmachen. Das wahrnehmbarste von
ihnen, die Erniedrigung des Klanges zu Schall, bei Nach-
ahmung von Naturgeräuschen: das Rollen des Don-
ners, das Rauschen der Bäume und die Tierlaute; und
schon weniger wahrnehmbar, symbolisch, die dem Gesichts-
sinn entnommenen Nachbildungen, wie Blitzesleuchten,
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Christian Schaper, Maximilian Furthmüller, Theresa Menard, Vanda Hehr, Clemens Gubsch, Claudio Fuchs, Jupp Wegner, David Mews, Ullrich Scheideler: Bearbeitung der digitalen Edition.
(2019-05-27T13:49:52Z)
Benjamin Fiechter: Konvertierung ins DTA-Basisformat
(2019-05-27T13:49:52Z)
Weitere Informationen:
Textgrundlage von 1906 von Busoni hauptsächlich 1914 überarbeitet. Gedruckt 1916 in Altenburg; erschienen im Insel-Verlag zu Leipzig als Nr. 202 der Insel-Bücherei.
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Busoni, Ferruccio: Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst. 2. Aufl. Leipzig, [1916], S. 14. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/busoni_entwurf_1916/14>, abgerufen am 27.07.2024.
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