Busoni, Ferruccio: Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst. 2. Aufl. Leipzig, [1916].Da höre ich den zweiten Geiger, wie er sich eine Quart Ists nicht eigentümlich, daß man vom Komponisten in Da höre ich den zweiten Geiger, wie er sich eine Quart Ists nicht eigentümlich, daß man vom Komponisten in <TEI> <text> <body> <div> <pb facs="#f0010" n="10"/> <p>Da höre ich den zweiten Geiger, wie er sich eine Quart<lb/> tiefer abmüht, den gewandteren ersten nachzuahmen, höre<lb/> einen unnötigen Kampf auskämpfen, um dahin zu gelangen,<lb/> wo man schon am Anfang stand. Diese Musik sollte viel-<lb/> mehr die architektonische heißen, oder die symmetrische, oder<lb/> die eingeteilte, und sie stammt daher, daß einzelne Ton-<lb/> dichter ihren Geist und ihre Empfindung in eine solche Form<lb/> gossen, weil es ihnen oder der Zeit am nächsten lag. Die<lb/> Gesetzgeber haben Geist, Empfindung, die Individualität<lb/> jener Tonsetzer und ihre Zeit mit der symmetrischen Musik<lb/> identifiziert und schließlich – da sie weder den Geist, noch<lb/> die Empfindung, noch die Zeit wiedergebären konnten – die<lb/> Form als Symbol behalten und sie zum Schild, zur Glaubens-<lb/> lehre erhoben. Die Tondichter suchten und fanden diese Form<lb/> als das geeignetste Mittel, ihre Gedanken mitzuteilen; sie<lb/> entschwebten – und die Gesetzgeber entdecken und verwahren<lb/> Euphorions auf der Erde zurückgebliebene Gewänder:<lb/><quote><lg type="poem"><l>„Noch immer glücklich aufgefunden!</l><lb/><l>Die Flamme freilich ist verschwunden,</l><lb/><l>Doch ist mir um die Welt nicht leid.</l><lb/><l>Hier bleibt genug, Poeten einzuweihen,</l><lb/><l>Zu stiften Gold- und Handwerksneid;</l><lb/><l>Und kann ich die Talente nicht verleihen,</l><lb/><l>Verborg ich wenigstens das Kleid.“</l></lg></quote> <note resp="#CS" type="editorial"><persName>J. W. Goethe</persName>, <title type="main">Faust II</title>; es spricht Mephistopheles in Gestalt des alten Weibes Phorkyas; Kontext dieser Stelle ist die Totenklage der Helena über ihren Sohn Euphorion.</note> </p><lb/> <p>Ists nicht eigentümlich, daß man vom Komponisten in<lb/> allem Originalität fordert und daß man sie ihm in der<lb/> Form verbietet? Was Wunder, daß man ihn – wenn er<lb/> wirklich originell wird – der Formlosigkeit anklagt. <persName>Mo-<lb/> zart</persName>! den Sucher und den Finder, den großen Menschen<lb/> mit dem kindlichen Herzen, ihn staunen wir an, an ihm<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [10/0010]
Da höre ich den zweiten Geiger, wie er sich eine Quart
tiefer abmüht, den gewandteren ersten nachzuahmen, höre
einen unnötigen Kampf auskämpfen, um dahin zu gelangen,
wo man schon am Anfang stand. Diese Musik sollte viel-
mehr die architektonische heißen, oder die symmetrische, oder
die eingeteilte, und sie stammt daher, daß einzelne Ton-
dichter ihren Geist und ihre Empfindung in eine solche Form
gossen, weil es ihnen oder der Zeit am nächsten lag. Die
Gesetzgeber haben Geist, Empfindung, die Individualität
jener Tonsetzer und ihre Zeit mit der symmetrischen Musik
identifiziert und schließlich – da sie weder den Geist, noch
die Empfindung, noch die Zeit wiedergebären konnten – die
Form als Symbol behalten und sie zum Schild, zur Glaubens-
lehre erhoben. Die Tondichter suchten und fanden diese Form
als das geeignetste Mittel, ihre Gedanken mitzuteilen; sie
entschwebten – und die Gesetzgeber entdecken und verwahren
Euphorions auf der Erde zurückgebliebene Gewänder:
„Noch immer glücklich aufgefunden!
Die Flamme freilich ist verschwunden,
Doch ist mir um die Welt nicht leid.
Hier bleibt genug, Poeten einzuweihen,
Zu stiften Gold- und Handwerksneid;
Und kann ich die Talente nicht verleihen,
Verborg ich wenigstens das Kleid.“
Ists nicht eigentümlich, daß man vom Komponisten in
allem Originalität fordert und daß man sie ihm in der
Form verbietet? Was Wunder, daß man ihn – wenn er
wirklich originell wird – der Formlosigkeit anklagt. Mo-
zart! den Sucher und den Finder, den großen Menschen
mit dem kindlichen Herzen, ihn staunen wir an, an ihm
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(2019-05-15T13:49:52Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Christian Schaper, Maximilian Furthmüller, Theresa Menard, Vanda Hehr, Clemens Gubsch, Claudio Fuchs, Jupp Wegner, David Mews, Ullrich Scheideler: Bearbeitung der digitalen Edition.
(2019-05-27T13:49:52Z)
Benjamin Fiechter: Konvertierung ins DTA-Basisformat
(2019-05-27T13:49:52Z)
Weitere Informationen:Textgrundlage von 1906 von Busoni hauptsächlich 1914 überarbeitet. Gedruckt 1916 in Altenburg; erschienen im Insel-Verlag zu Leipzig als Nr. 202 der Insel-Bücherei. Die Transkription erfolgte nach den unter https://www.busoni-nachlass.org/de/Projekt/E1000003.html, http://www.deutschestextarchiv.de/doku/basisformat/ formulierten Richtlinien. Druckfehler: dokumentiert; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;
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