Burdel, Édouard: Die Trunksucht. (Übers. Heinrich Gauss). Weimar, 1855.Rücksicht auf den Zustand seiner geistigen Fähigkeiten zu nehmen, zur Strafe gezogen. Vielleicht möchte man hier einwenden, daß der Zorn, so wüthend und schnell er auch sei, den Menschen nur in einem normalen Zustande und auch nur so heftig, als er selbst zulasse, überfalle; denn einige Augenblicke vorher könne er, noch bei vollem Verstande, seine Wuth, wenn auch nicht ganz stillen, doch mäßigen, während in der Trunkenheit das Geistesvermögen zuweilen schon lange vor der verübten That vernichtet sei. Diesem Einwurfe ließe sich aber durch die Behauptung begegnen, daß der Mensch, welcher freiwillig, sowie im Genüsse aller seiner geistigen Fähigkeiten vor der Berauschung stehend, sich betrinkt, ebenfalls der Kategorie derjenigen angehöre, welche in Zorn gerathen; denn nicht allein stand es bei ihm, sich nicht zu betrinken, sondern er mußte, indem er sich betrank, wissen, welcher Gefahr er sich dadurch aussetze, nämlich der, seinen Verstand zu verlieren und sich in Folge dessen Handlungen hinzugeben, deren er sich durchaus nicht mehr bewußt sei. Hebt nicht überhaupt alle und jede Leidenschaftlichkeit für Augenblicke die Fähigkeit des Denkens und Ueberlegens auf und treibt zu Handlungen an, welche man bereut, wenn diese Geistesverwirrung aufgehört hat, und doch ist der Gesetzgeber nie auf den Gedanken gekommen, die während einer solchen leidenschaftlichen Verblendung begangenen Vergehen irgend zu entschuldigen. Denn man denn daran, den im Paroxysmus der Wollust verübten Gewaltthaten irgend ein Mäntelchen umzuhängen, weil man sieht, daß der in seiner Leidenschaft bis zur Wuth getriebene Frevler nicht mehr im vollen Besitz der Geistesfreiheit ist? Bei ihm herrscht in den Augenblicken ausschließlich die viehische Natur vor und erstickt in ihm alle Mahnungen des Gewissens, alle Vorschriften der Vernunft, und hat er ein Verbrechen begangen, so sehen wir ihn, wenn die Flamme seiner Leidenschaft erloschen ist, nicht allein die verübte Rücksicht auf den Zustand seiner geistigen Fähigkeiten zu nehmen, zur Strafe gezogen. Vielleicht möchte man hier einwenden, daß der Zorn, so wüthend und schnell er auch sei, den Menschen nur in einem normalen Zustande und auch nur so heftig, als er selbst zulasse, überfalle; denn einige Augenblicke vorher könne er, noch bei vollem Verstande, seine Wuth, wenn auch nicht ganz stillen, doch mäßigen, während in der Trunkenheit das Geistesvermögen zuweilen schon lange vor der verübten That vernichtet sei. Diesem Einwurfe ließe sich aber durch die Behauptung begegnen, daß der Mensch, welcher freiwillig, sowie im Genüsse aller seiner geistigen Fähigkeiten vor der Berauschung stehend, sich betrinkt, ebenfalls der Kategorie derjenigen angehöre, welche in Zorn gerathen; denn nicht allein stand es bei ihm, sich nicht zu betrinken, sondern er mußte, indem er sich betrank, wissen, welcher Gefahr er sich dadurch aussetze, nämlich der, seinen Verstand zu verlieren und sich in Folge dessen Handlungen hinzugeben, deren er sich durchaus nicht mehr bewußt sei. Hebt nicht überhaupt alle und jede Leidenschaftlichkeit für Augenblicke die Fähigkeit des Denkens und Ueberlegens auf und treibt zu Handlungen an, welche man bereut, wenn diese Geistesverwirrung aufgehört hat, und doch ist der Gesetzgeber nie auf den Gedanken gekommen, die während einer solchen leidenschaftlichen Verblendung begangenen Vergehen irgend zu entschuldigen. Denn man denn daran, den im Paroxysmus der Wollust verübten Gewaltthaten irgend ein Mäntelchen umzuhängen, weil man sieht, daß der in seiner Leidenschaft bis zur Wuth getriebene Frevler nicht mehr im vollen Besitz der Geistesfreiheit ist? Bei ihm herrscht in den Augenblicken ausschließlich die viehische Natur vor und erstickt in ihm alle Mahnungen des Gewissens, alle Vorschriften der Vernunft, und hat er ein Verbrechen begangen, so sehen wir ihn, wenn die Flamme seiner Leidenschaft erloschen ist, nicht allein die verübte <TEI> <text> <body> <div> <p><pb facs="#f0068" n="58"/> Rücksicht auf den Zustand seiner geistigen Fähigkeiten zu nehmen, zur Strafe gezogen. Vielleicht möchte man hier einwenden, daß der Zorn, so wüthend und schnell er auch sei, den Menschen nur in einem normalen Zustande und auch nur so heftig, als er selbst zulasse, überfalle; denn einige Augenblicke vorher könne er, noch bei vollem Verstande, seine Wuth, wenn auch nicht ganz stillen, doch mäßigen, während in der Trunkenheit das Geistesvermögen zuweilen schon lange vor der verübten That vernichtet sei. Diesem Einwurfe ließe sich aber durch die Behauptung begegnen, daß der Mensch, welcher freiwillig, sowie im Genüsse aller seiner geistigen Fähigkeiten vor der Berauschung stehend, sich betrinkt, ebenfalls der Kategorie derjenigen angehöre, welche in Zorn gerathen; denn nicht allein stand es bei ihm, sich nicht zu betrinken, sondern er mußte, indem er sich betrank, wissen, welcher Gefahr er sich dadurch aussetze, nämlich der, seinen Verstand zu verlieren und sich in Folge dessen Handlungen hinzugeben, deren er sich durchaus nicht mehr bewußt sei. Hebt nicht überhaupt alle und jede Leidenschaftlichkeit für Augenblicke die Fähigkeit des Denkens und Ueberlegens auf und treibt zu Handlungen an, welche man bereut, wenn diese Geistesverwirrung aufgehört hat, und doch ist der Gesetzgeber nie auf den Gedanken gekommen, die während einer solchen leidenschaftlichen Verblendung begangenen Vergehen irgend zu entschuldigen.</p> <p>Denn man denn daran, den im Paroxysmus der Wollust verübten Gewaltthaten irgend ein Mäntelchen umzuhängen, weil man sieht, daß der in seiner Leidenschaft bis zur Wuth getriebene Frevler nicht mehr im vollen Besitz der Geistesfreiheit ist? Bei ihm herrscht in den Augenblicken ausschließlich die viehische Natur vor und erstickt in ihm alle Mahnungen des Gewissens, alle Vorschriften der Vernunft, und hat er ein Verbrechen begangen, so sehen wir ihn, wenn die Flamme seiner Leidenschaft erloschen ist, nicht allein die verübte </p> </div> </body> </text> </TEI> [58/0068]
Rücksicht auf den Zustand seiner geistigen Fähigkeiten zu nehmen, zur Strafe gezogen. Vielleicht möchte man hier einwenden, daß der Zorn, so wüthend und schnell er auch sei, den Menschen nur in einem normalen Zustande und auch nur so heftig, als er selbst zulasse, überfalle; denn einige Augenblicke vorher könne er, noch bei vollem Verstande, seine Wuth, wenn auch nicht ganz stillen, doch mäßigen, während in der Trunkenheit das Geistesvermögen zuweilen schon lange vor der verübten That vernichtet sei. Diesem Einwurfe ließe sich aber durch die Behauptung begegnen, daß der Mensch, welcher freiwillig, sowie im Genüsse aller seiner geistigen Fähigkeiten vor der Berauschung stehend, sich betrinkt, ebenfalls der Kategorie derjenigen angehöre, welche in Zorn gerathen; denn nicht allein stand es bei ihm, sich nicht zu betrinken, sondern er mußte, indem er sich betrank, wissen, welcher Gefahr er sich dadurch aussetze, nämlich der, seinen Verstand zu verlieren und sich in Folge dessen Handlungen hinzugeben, deren er sich durchaus nicht mehr bewußt sei. Hebt nicht überhaupt alle und jede Leidenschaftlichkeit für Augenblicke die Fähigkeit des Denkens und Ueberlegens auf und treibt zu Handlungen an, welche man bereut, wenn diese Geistesverwirrung aufgehört hat, und doch ist der Gesetzgeber nie auf den Gedanken gekommen, die während einer solchen leidenschaftlichen Verblendung begangenen Vergehen irgend zu entschuldigen.
Denn man denn daran, den im Paroxysmus der Wollust verübten Gewaltthaten irgend ein Mäntelchen umzuhängen, weil man sieht, daß der in seiner Leidenschaft bis zur Wuth getriebene Frevler nicht mehr im vollen Besitz der Geistesfreiheit ist? Bei ihm herrscht in den Augenblicken ausschließlich die viehische Natur vor und erstickt in ihm alle Mahnungen des Gewissens, alle Vorschriften der Vernunft, und hat er ein Verbrechen begangen, so sehen wir ihn, wenn die Flamme seiner Leidenschaft erloschen ist, nicht allein die verübte
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