Die stete und ununterbrochene Richtung unserer geisti- gen Selbstthätigkeit auf einen bestimmten Gegenstand, welche wir mit dem Namen der Aufmerksamkeit bezeichnen, ist die erste und unentbehrlichste Eigenschaft eines Beobach- ters, und daher auch eines Arztes.
§ 504.
Denn nur durch die schärfste Aufmerksamkeit kann man die Individualitäten jedes einzelnen Krankheitsfalls bemer- ken, welche den Grund zu Bestimmung unsres Verfahrens bey der Heilung enthalten. Der Unaufmerksame bemerkt nur die Oberfläche der Erscheinungen; diese ist in den mei- sten Krankheiten dieselbe, er bemerkt also überall eine voll- ständige Analogie, er kann nicht individualisiren, und wird deshalb leicht ein Routinier (§ 480). Dies ist eine Ursache, weshalb ein guter theoretischer Arzt zuweilen ein schlechter Praktiker ist. Es geht ihm nämlich noch eine nothwendige Eigenschaft des Arztes (Beobachtungsgeist) ab: dahingegen kann aber niemand ein guter Praktiker seyn, wer ein schlech- ter Theoretiker ist, denn in Jenem muß Alles und noch mehr enthalten seyn, was diesen bildet.
Stahl de attentione medico-practica. Halae, 711. 4.
§ 505.
Obschon die Aufmerksamkeit oft ein Geschenk der Natur, und Menschen verliehen ist, welche keinen höhern Gebrauch davon zu machen verstehen: so kann man sich dieselbe doch selbst durch ernstlichen Willen in einem gewissen Grade zu eigen machen, indem man sich gewöhnt, alle Gegenstände
von
Dritter Theil.
1. Aufmerkſamkeit.
§ 503.
Die ſtete und ununterbrochene Richtung unſerer geiſti- gen Selbſtthaͤtigkeit auf einen beſtimmten Gegenſtand, welche wir mit dem Namen der Aufmerkſamkeit bezeichnen, iſt die erſte und unentbehrlichſte Eigenſchaft eines Beobach- ters, und daher auch eines Arztes.
§ 504.
Denn nur durch die ſchaͤrfſte Aufmerkſamkeit kann man die Individualitaͤten jedes einzelnen Krankheitsfalls bemer- ken, welche den Grund zu Beſtimmung unſres Verfahrens bey der Heilung enthalten. Der Unaufmerkſame bemerkt nur die Oberflaͤche der Erſcheinungen; dieſe iſt in den mei- ſten Krankheiten dieſelbe, er bemerkt alſo uͤberall eine voll- ſtaͤndige Analogie, er kann nicht individualiſiren, und wird deshalb leicht ein Routinier (§ 480). Dies iſt eine Urſache, weshalb ein guter theoretiſcher Arzt zuweilen ein ſchlechter Praktiker iſt. Es geht ihm naͤmlich noch eine nothwendige Eigenſchaft des Arztes (Beobachtungsgeiſt) ab: dahingegen kann aber niemand ein guter Praktiker ſeyn, wer ein ſchlech- ter Theoretiker iſt, denn in Jenem muß Alles und noch mehr enthalten ſeyn, was dieſen bildet.
Stahl de attentione medico-practica. Halae, 711. 4.
§ 505.
Obſchon die Aufmerkſamkeit oft ein Geſchenk der Natur, und Menſchen verliehen iſt, welche keinen hoͤhern Gebrauch davon zu machen verſtehen: ſo kann man ſich dieſelbe doch ſelbſt durch ernſtlichen Willen in einem gewiſſen Grade zu eigen machen, indem man ſich gewoͤhnt, alle Gegenſtaͤnde
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[154/0172]
Dritter Theil.
1. Aufmerkſamkeit.
§ 503.
Die ſtete und ununterbrochene Richtung unſerer geiſti-
gen Selbſtthaͤtigkeit auf einen beſtimmten Gegenſtand,
welche wir mit dem Namen der Aufmerkſamkeit bezeichnen,
iſt die erſte und unentbehrlichſte Eigenſchaft eines Beobach-
ters, und daher auch eines Arztes.
§ 504.
Denn nur durch die ſchaͤrfſte Aufmerkſamkeit kann man
die Individualitaͤten jedes einzelnen Krankheitsfalls bemer-
ken, welche den Grund zu Beſtimmung unſres Verfahrens
bey der Heilung enthalten. Der Unaufmerkſame bemerkt
nur die Oberflaͤche der Erſcheinungen; dieſe iſt in den mei-
ſten Krankheiten dieſelbe, er bemerkt alſo uͤberall eine voll-
ſtaͤndige Analogie, er kann nicht individualiſiren, und wird
deshalb leicht ein Routinier (§ 480). Dies iſt eine Urſache,
weshalb ein guter theoretiſcher Arzt zuweilen ein ſchlechter
Praktiker iſt. Es geht ihm naͤmlich noch eine nothwendige
Eigenſchaft des Arztes (Beobachtungsgeiſt) ab: dahingegen
kann aber niemand ein guter Praktiker ſeyn, wer ein ſchlech-
ter Theoretiker iſt, denn in Jenem muß Alles und noch mehr
enthalten ſeyn, was dieſen bildet.
Stahl de attentione medico-practica. Halae, 711. 4.
§ 505.
Obſchon die Aufmerkſamkeit oft ein Geſchenk der Natur,
und Menſchen verliehen iſt, welche keinen hoͤhern Gebrauch
davon zu machen verſtehen: ſo kann man ſich dieſelbe doch
ſelbſt durch ernſtlichen Willen in einem gewiſſen Grade zu
eigen machen, indem man ſich gewoͤhnt, alle Gegenſtaͤnde
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Burdach, Karl Friedrich: Propädeutik zum Studium der gesammten Heilkunst. Leipzig, 1800, S. 154. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burdach_propaedeutik_1800/172>, abgerufen am 16.07.2024.
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