legt irgendwo 1) dem Sannazar die Erzählung einer Vision6. Abschnitt. in den Mund, die er früh Morgens im Halbschlummer gehabt habe. Es erscheint ihm ein verstorbener Freund Ferrandus Januarius, mit dem er sich einst oft über die Unsterblichkeit der Seele unterhalten hatte; jetzt frägt er ihn, ob die Ewigkeit und Schrecklichkeit der Höllenstrafen eine Wahrheit sei? Der Schatten antwortet nach einigem Schweigen ganz im Sinne des Achill als ihn Odysseus befragte: "soviel sage und betheure ich dir, daß wir vom leiblichen Leben Abgeschiedenen das stärkste Verlangen tragen wieder in dasselbe zurückzukehren". Dann grüßt und ver- schwindet er.
Es ist gar nicht zu verkennen, daß solche AnsichtenVerflüchtigung der christlichen Lehre. vom Zustande nach dem Tode das Aufhören der wesent- lichsten christlichen Dogmen theils voraussetzen theils ver- ursachen. Die Begriffe von Sünde und Erlösung müssen fast völlig verduftet gewesen sein. Man darf sich durch die Wirkung der Bußprediger und durch die Bußepide- mien, von welchen oben (S. 467 u. f., 490 u. f.) die Rede war, nicht irre machen lassen; denn selbst zugegeben, daß auch die individuell entwickelten Stände daran Theil genommen hätten wie alle andern, so war die Hauptsache dabei doch nur das Rührungsbedürfniß, die Losspannung heftiger Gemüther, das Entsetzen über großes Landesun- glück, der Schrei zum Himmel um Hülfe. Die Weckung des Gewissens hatte durchaus nicht nothwendig das Gefühl der Sündhaftigkeit und des Bedürfnisses der Erlösung zur Folge, ja selbst eine sehr heftige äußere Buße setzt nicht nothwendig eine Reue im christlichen Sinne voraus. Wenn kräftig entwickelte Menschen der Renaissance uns erzählen, ihr Princip sei: nichts zu bereuen 2), so kann dieß aller-
1) In seiner späten Schrift Actius.
2)Cardanus, de propria vita, cap. 13: non poenitere ullius rei quam voluntarie effecerim, etiam quae male cessisset; ohne dieses wäre ich der unglücklichste Mensch gewesen.
legt irgendwo 1) dem Sannazar die Erzählung einer Viſion6. Abſchnitt. in den Mund, die er früh Morgens im Halbſchlummer gehabt habe. Es erſcheint ihm ein verſtorbener Freund Ferrandus Januarius, mit dem er ſich einſt oft über die Unſterblichkeit der Seele unterhalten hatte; jetzt frägt er ihn, ob die Ewigkeit und Schrecklichkeit der Höllenſtrafen eine Wahrheit ſei? Der Schatten antwortet nach einigem Schweigen ganz im Sinne des Achill als ihn Odyſſeus befragte: „ſoviel ſage und betheure ich dir, daß wir vom leiblichen Leben Abgeſchiedenen das ſtärkſte Verlangen tragen wieder in daſſelbe zurückzukehren“. Dann grüßt und ver- ſchwindet er.
Es iſt gar nicht zu verkennen, daß ſolche AnſichtenVerflüchtigung der chriſtlichen Lehre. vom Zuſtande nach dem Tode das Aufhören der weſent- lichſten chriſtlichen Dogmen theils vorausſetzen theils ver- urſachen. Die Begriffe von Sünde und Erlöſung müſſen faſt völlig verduftet geweſen ſein. Man darf ſich durch die Wirkung der Bußprediger und durch die Bußepide- mien, von welchen oben (S. 467 u. f., 490 u. f.) die Rede war, nicht irre machen laſſen; denn ſelbſt zugegeben, daß auch die individuell entwickelten Stände daran Theil genommen hätten wie alle andern, ſo war die Hauptſache dabei doch nur das Rührungsbedürfniß, die Losſpannung heftiger Gemüther, das Entſetzen über großes Landesun- glück, der Schrei zum Himmel um Hülfe. Die Weckung des Gewiſſens hatte durchaus nicht nothwendig das Gefühl der Sündhaftigkeit und des Bedürfniſſes der Erlöſung zur Folge, ja ſelbſt eine ſehr heftige äußere Buße ſetzt nicht nothwendig eine Reue im chriſtlichen Sinne voraus. Wenn kräftig entwickelte Menſchen der Renaiſſance uns erzählen, ihr Princip ſei: nichts zu bereuen 2), ſo kann dieß aller-
1) In ſeiner ſpäten Schrift Actius.
2)Cardanus, de propria vita, cap. 13: non poenitere ullius rei quam voluntarie effecerim, etiam quæ male cessisset; ohne dieſes wäre ich der unglücklichſte Menſch geweſen.
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Ferrandus Januarius, mit dem er ſich einſt oft über die
Unſterblichkeit der Seele unterhalten hatte; jetzt frägt er
ihn, ob die Ewigkeit und Schrecklichkeit der Höllenſtrafen
eine Wahrheit ſei? Der Schatten antwortet nach einigem
Schweigen ganz im Sinne des Achill als ihn Odyſſeus
befragte: „ſoviel ſage und betheure ich dir, daß wir vom
leiblichen Leben Abgeſchiedenen das ſtärkſte Verlangen tragen
wieder in daſſelbe zurückzukehren“. Dann grüßt und ver-
ſchwindet er.
6. Abſchnitt.
Es iſt gar nicht zu verkennen, daß ſolche Anſichten
vom Zuſtande nach dem Tode das Aufhören der weſent-
lichſten chriſtlichen Dogmen theils vorausſetzen theils ver-
urſachen. Die Begriffe von Sünde und Erlöſung müſſen
faſt völlig verduftet geweſen ſein. Man darf ſich durch
die Wirkung der Bußprediger und durch die Bußepide-
mien, von welchen oben (S. 467 u. f., 490 u. f.) die
Rede war, nicht irre machen laſſen; denn ſelbſt zugegeben,
daß auch die individuell entwickelten Stände daran Theil
genommen hätten wie alle andern, ſo war die Hauptſache
dabei doch nur das Rührungsbedürfniß, die Losſpannung
heftiger Gemüther, das Entſetzen über großes Landesun-
glück, der Schrei zum Himmel um Hülfe. Die Weckung
des Gewiſſens hatte durchaus nicht nothwendig das Gefühl
der Sündhaftigkeit und des Bedürfniſſes der Erlöſung zur
Folge, ja ſelbſt eine ſehr heftige äußere Buße ſetzt nicht
nothwendig eine Reue im chriſtlichen Sinne voraus. Wenn
kräftig entwickelte Menſchen der Renaiſſance uns erzählen,
ihr Princip ſei: nichts zu bereuen 2), ſo kann dieß aller-
Verflüchtigung
der chriſtlichen
Lehre.
1) In ſeiner ſpäten Schrift Actius.
2) Cardanus, de propria vita, cap. 13: non poenitere ullius rei
quam voluntarie effecerim, etiam quæ male cessisset; ohne
dieſes wäre ich der unglücklichſte Menſch geweſen.
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Burckhardt, Jacob: Die Cultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch. Basel, 1860, S. 557. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_renaissance_1860/567>, abgerufen am 22.11.2024.
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